Metadaten

Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0051
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die Epochenschwelle von 1912

41

gardisten der ästhetischen Moderne zuzuerkennen? Ist nicht gerade
das dominante Zukunftspathos ein letzter Grund der Verklärung des
nicht Verklärbaren? „Son écriture n’est dans l’ensemble ni empha-
tique, ni blanche, ni dégradée. Ses poèmes ne privilégient pas l’aspect
fantastique du champ de bataille. Tout en lui devient élément d’une
musique intérieure. Mais l’instrument se désaccorde“72. Was immer
sich fur eine gerechtere Würdigung der Kriegslyrik Apollinaires vor-
bringen läßt - seine Lyra verstimmt sich und zerbricht niemals im
Gesang. Sie verwandelt - wie König Midas, dem alles zu Gold wird,
was er anrührt - selbst noch den Horror und das sinnlose Leiden des
Krieges ins grausig Schöne, erweckt die Hoffnung auf die Heraufkunft
eines im Licht der Künste zu erneuernden, humaneren Universums
und vermag darum nicht zu sagen, woran die Lyra des Dichters im
Gesang selbst zerbrechen müßte. Gemeint ist der Erfahrungsabbruch
des Kriegserlebens, vor dem auch ästhetische Erfahrung ihre ‘Ehre’
nur im Eingeständnis ihres Ungenügens bewahren kann.
Den poetischen Verfahren als solchen ist dabei die unwillentliche
Verklärung nicht per se anzulasten. Daß der Horror des absoluten
Krieges durchaus auch mit modernen, ‘imagistischen’ Mitteln und
orphischen Tönen poetisch ergriffen und - der Tendenz der Sublimie-
rung entgegen - als Schockerfahrung wirksam gemacht werden kann,
erweist zum Beispiel das Gedicht: Der Krieg von Georg Heym, zu dem
ich bei Apollinaire kein Seitenstück zu finden weiß. Daß Heyms
Gedicht schon drei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs
entstand, tut seinem exemplarischen Rang keinen Abbruch. Vielmehr
zeigt es in diesem Zusammenhang an, daß das Zukunftspathos der
Avantgarden um 1912 nicht allein die Illusionen eines unbegrenzten
Fortschritts, sondern - obschon vereinzelt - auch die Ahnung der
bevorstehenden geschichtlichen Katastrophe einbegriff:
Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, gross und unbekannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.
In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit.
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiss.
In den Gassen fasst es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.

72

Ebd., S. 28.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften