Die Entstehung der historischen Biographie
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IV
Es ist nicht zweifelhaft, daß die Tradition biographischer Schriftstellerei, die
man in Mittelalter und Neuzeit in historiographischer Absicht gepflegt hat, von
Sueton ihren Ausgang nimmt. Daß in einer monarchisch verfaßten Gesellschaft die
lückenlose Reihe der Herrscherbiographien von selbst eine historiographische
Funktion erhält, schon mit der damit erzielten lückenlosen Jahreszählung, liegt auf
der Hand und wird u. a. durch die Geschichtsschreibung des Alten Orientes bestä-
tigt. Wie sich in einer Monarchie, in der letztlich alles auf die Qualitäten und Ent-
scheidungen einer Einzelperson ankommt, historiographische Konventionen ganz
anderer Art der Berücksichtigung biographischer Details und Prinzipien anbeque-
men müssen, lehren etwa die Annalen des Tacitus ganz unmißverständlich. Ob-
wohl der Autor das annalistische Schema der Darstellung durchweg befolgt und zu
jedem Jahr die eponymen Consuln nennt, ist doch die Verteilung des Stoffes im
Gesamtaufbau des Werkes ganz und gar in dem Sinne biographisch gehalten, daß
die Bucheinteilung den Regierungsperioden der Kaiser folgt und die Jahresangaben
ohne kompositorische Bedeutung bleiben. Bezeichnend ist auch, daß Tacitus zwar
manchmal (z. B. ann. 6, 38,1), aber keineswegs immer darauf hinweist, wenn er um
des Zusammenhanges oder der Wirkung willen zeitlich auseinanderliegende Ereig-
nisse zusammen behandelt, etwa im Fall des Ausganges des Germanicus und des
Arminius am Ende des 2. Buches (weitere Beispiele bei R. Syme I 390ff.). Biogra-
phisches Material verwendet Tacitus nicht nur als erläuternde Digression im Sinn
der apodeiktischen Geschichtsschreibung, deren Theorie bei Polybios und Cicero
erhalten ist (s. o. S. 13). Vielmehr beherrscht z. B. in den ersten 6 Büchern die Ent-
wicklung oder besser das allmähliche Offenbarwerden der Persönlichkeit des
Kaisers Tiberius die gesamte Darstellung nach Aufbau und Inhalt. Der Geschichts-
schreiber wählt danach die Ereignisse aus und deutet sie primär als direkte oder
indirekte Resultate der Handlungen des Kaisers.
Ein vergleichbares biographisches Element eignete bereits dem Geschichtswerk
des Velleius Paterculus, und zwar nicht nur in den abschließenden Tiberius-
Kapiteln (F. Münzer, Festschr. zur 49. Versammlung deutscher Philologen und
Schulmänner, Basel 1907, 250ff). Die historische Darstellung ist auch um Gestal-
ten wie Aemilius Paulius oder Tib. Gracchus zentriert, ohne daß man dabei unbe-
dingt an biographische Quellen (D. J. McGonagle, Rhetoric and Biography in
Velleius Paterculus, Diss. Ohio State University 1970, 113) oder an die propagan-
distische Tendenz des Werkes (J. Hellegouarc’h, Latomus 23,1964, 682ff.) denken
müßte.
Im Tiberius-Teil finden sich nicht nur wie bei Tacitus die häufigen Hinweise auf
Charakter, Wesen, Herkunft und Erziehung des Tiberius sowie die Darstellung
seiner Handlungen als Dokumente seiner Eigenschaften, natürlich meist mit einer
dem von Tacitus entworfenen Bild entgegengesetzten Tendenz. Im Abschnitt über
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Es ist nicht zweifelhaft, daß die Tradition biographischer Schriftstellerei, die
man in Mittelalter und Neuzeit in historiographischer Absicht gepflegt hat, von
Sueton ihren Ausgang nimmt. Daß in einer monarchisch verfaßten Gesellschaft die
lückenlose Reihe der Herrscherbiographien von selbst eine historiographische
Funktion erhält, schon mit der damit erzielten lückenlosen Jahreszählung, liegt auf
der Hand und wird u. a. durch die Geschichtsschreibung des Alten Orientes bestä-
tigt. Wie sich in einer Monarchie, in der letztlich alles auf die Qualitäten und Ent-
scheidungen einer Einzelperson ankommt, historiographische Konventionen ganz
anderer Art der Berücksichtigung biographischer Details und Prinzipien anbeque-
men müssen, lehren etwa die Annalen des Tacitus ganz unmißverständlich. Ob-
wohl der Autor das annalistische Schema der Darstellung durchweg befolgt und zu
jedem Jahr die eponymen Consuln nennt, ist doch die Verteilung des Stoffes im
Gesamtaufbau des Werkes ganz und gar in dem Sinne biographisch gehalten, daß
die Bucheinteilung den Regierungsperioden der Kaiser folgt und die Jahresangaben
ohne kompositorische Bedeutung bleiben. Bezeichnend ist auch, daß Tacitus zwar
manchmal (z. B. ann. 6, 38,1), aber keineswegs immer darauf hinweist, wenn er um
des Zusammenhanges oder der Wirkung willen zeitlich auseinanderliegende Ereig-
nisse zusammen behandelt, etwa im Fall des Ausganges des Germanicus und des
Arminius am Ende des 2. Buches (weitere Beispiele bei R. Syme I 390ff.). Biogra-
phisches Material verwendet Tacitus nicht nur als erläuternde Digression im Sinn
der apodeiktischen Geschichtsschreibung, deren Theorie bei Polybios und Cicero
erhalten ist (s. o. S. 13). Vielmehr beherrscht z. B. in den ersten 6 Büchern die Ent-
wicklung oder besser das allmähliche Offenbarwerden der Persönlichkeit des
Kaisers Tiberius die gesamte Darstellung nach Aufbau und Inhalt. Der Geschichts-
schreiber wählt danach die Ereignisse aus und deutet sie primär als direkte oder
indirekte Resultate der Handlungen des Kaisers.
Ein vergleichbares biographisches Element eignete bereits dem Geschichtswerk
des Velleius Paterculus, und zwar nicht nur in den abschließenden Tiberius-
Kapiteln (F. Münzer, Festschr. zur 49. Versammlung deutscher Philologen und
Schulmänner, Basel 1907, 250ff). Die historische Darstellung ist auch um Gestal-
ten wie Aemilius Paulius oder Tib. Gracchus zentriert, ohne daß man dabei unbe-
dingt an biographische Quellen (D. J. McGonagle, Rhetoric and Biography in
Velleius Paterculus, Diss. Ohio State University 1970, 113) oder an die propagan-
distische Tendenz des Werkes (J. Hellegouarc’h, Latomus 23,1964, 682ff.) denken
müßte.
Im Tiberius-Teil finden sich nicht nur wie bei Tacitus die häufigen Hinweise auf
Charakter, Wesen, Herkunft und Erziehung des Tiberius sowie die Darstellung
seiner Handlungen als Dokumente seiner Eigenschaften, natürlich meist mit einer
dem von Tacitus entworfenen Bild entgegengesetzten Tendenz. Im Abschnitt über