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Arno Borst
und nahmen kostbare Bücher mit, was Hermann grimmig vermerk-
te.84
Undenkbar, daß Immo dem Inselkloster ein wertvolles Buch vom
Astrolab zugeführt hätte, noch dazu aus der Abtei Gorze, die eine
Hochburg asketischer Meditation und Aktion, kein Forschungsinstitut
für Naturkunde war. Ihre Bibliothek besaß noch im späten 11.
Jahrhundert fast alle geistlichen und weltlichen Klassiker der lateini-
schen Literatur vom 4. bis zum 9. Jahrhundert, darunter Lehrbücher
zur Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie sowie zur christ-
lichen Zeitrechnung und Geschichtsdeutung, dazu eine karolingische
Abhandlung über die tausend Jahre, die das sechste Weltalter dauern
werde. Aber seit dem Ende dieses Jahrtausends verschaffte sich Gorze
keinen einzigen Traktat über den Abacus oder das Astrolab, als wäre
die Zeit inzwischen stehengeblieben.85
Erleichtert meldete Hermann, daß der Kaiser zwei Jahre später den
Reichenauer Dickköpfen einen besseren Mönch aus Lothringen als
Abt schickte: Bern, der aus Prüm kam. Obwohl er weder auf
alemannische noch auf hochadlige Herkunft pochen konnte, begrüßten
ihn die Reichenauer 1008 freundlicher als den Vorgänger, denn der Ruf
„großer Wissenschaft und Frömmigkeit“ eilte ihm voraus, wie Her-
mann rühmte. Er wiederholte zum Jahr 1048, Bern sei nach vierzig
Jahren Abtszeit in gutem Greisenalter gestorben, „ein durch Gelehr-
samkeit und Sittlichkeit ausgezeichneter Mann“. Wenn Hermann von
Wissenschaft und Gelehrsamkeit sprach, meinte er stets Mathematik
und Naturkunde.86
Man möchte einwenden, daß Hermann den geistigen Horizont seines
Meisters überschätzte, aus Dankbarkeit. Denn Bern war es gewesen,
der den von Jugend auf gelähmten Hermann als Siebenjährigen 1020 in
84 Hermann, Chronicon a. 1006 S. 118. Zum Zusammenhang Hans Erich Feine,
Klosterreformen im 10. und 11. Jahrhundert und ihr Einfluß auf die Reichenau
und St. Gallen, in: Aus Verfassungs- und Landesgeschichte. Festschrift Theodor
Mayer, Bd. 2 (1955) S. 77-91, hier S. 84-89; Neidhart Bulst, Untersuchungen zu
den Klosterreformen Wilhelms von Dijon 962-1031 (1973) S. 86 f.
85 Dazu Germain Morin, Le catalogue des manuscrits de l’Abbaye de Gorze au XIC
siecle, Revue Benedictine 22 (1905) S. 1-14, hier S. 3-11 das Bücherverzeichnis.
Die treffendste Charakteristik Gorzes noch immer bei Albert Hauck, Kirchen-
geschichte Deutschlands, Bd. 3 (zuerst 1896, 61952) S. 353-357.
86 Hermann, Chronicon a. 1008 S. 119 Berns Amtsantritt; a. 1048 S. 128 sein Tod.
Zu Berns Abtszeit vor allem Oesch, Berno S. 33-42; ergänzend Verf., Mönche
am Bodensee 610-1525 (zuerst 1978, 31985) S. 102-112.
Arno Borst
und nahmen kostbare Bücher mit, was Hermann grimmig vermerk-
te.84
Undenkbar, daß Immo dem Inselkloster ein wertvolles Buch vom
Astrolab zugeführt hätte, noch dazu aus der Abtei Gorze, die eine
Hochburg asketischer Meditation und Aktion, kein Forschungsinstitut
für Naturkunde war. Ihre Bibliothek besaß noch im späten 11.
Jahrhundert fast alle geistlichen und weltlichen Klassiker der lateini-
schen Literatur vom 4. bis zum 9. Jahrhundert, darunter Lehrbücher
zur Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie sowie zur christ-
lichen Zeitrechnung und Geschichtsdeutung, dazu eine karolingische
Abhandlung über die tausend Jahre, die das sechste Weltalter dauern
werde. Aber seit dem Ende dieses Jahrtausends verschaffte sich Gorze
keinen einzigen Traktat über den Abacus oder das Astrolab, als wäre
die Zeit inzwischen stehengeblieben.85
Erleichtert meldete Hermann, daß der Kaiser zwei Jahre später den
Reichenauer Dickköpfen einen besseren Mönch aus Lothringen als
Abt schickte: Bern, der aus Prüm kam. Obwohl er weder auf
alemannische noch auf hochadlige Herkunft pochen konnte, begrüßten
ihn die Reichenauer 1008 freundlicher als den Vorgänger, denn der Ruf
„großer Wissenschaft und Frömmigkeit“ eilte ihm voraus, wie Her-
mann rühmte. Er wiederholte zum Jahr 1048, Bern sei nach vierzig
Jahren Abtszeit in gutem Greisenalter gestorben, „ein durch Gelehr-
samkeit und Sittlichkeit ausgezeichneter Mann“. Wenn Hermann von
Wissenschaft und Gelehrsamkeit sprach, meinte er stets Mathematik
und Naturkunde.86
Man möchte einwenden, daß Hermann den geistigen Horizont seines
Meisters überschätzte, aus Dankbarkeit. Denn Bern war es gewesen,
der den von Jugend auf gelähmten Hermann als Siebenjährigen 1020 in
84 Hermann, Chronicon a. 1006 S. 118. Zum Zusammenhang Hans Erich Feine,
Klosterreformen im 10. und 11. Jahrhundert und ihr Einfluß auf die Reichenau
und St. Gallen, in: Aus Verfassungs- und Landesgeschichte. Festschrift Theodor
Mayer, Bd. 2 (1955) S. 77-91, hier S. 84-89; Neidhart Bulst, Untersuchungen zu
den Klosterreformen Wilhelms von Dijon 962-1031 (1973) S. 86 f.
85 Dazu Germain Morin, Le catalogue des manuscrits de l’Abbaye de Gorze au XIC
siecle, Revue Benedictine 22 (1905) S. 1-14, hier S. 3-11 das Bücherverzeichnis.
Die treffendste Charakteristik Gorzes noch immer bei Albert Hauck, Kirchen-
geschichte Deutschlands, Bd. 3 (zuerst 1896, 61952) S. 353-357.
86 Hermann, Chronicon a. 1008 S. 119 Berns Amtsantritt; a. 1048 S. 128 sein Tod.
Zu Berns Abtszeit vor allem Oesch, Berno S. 33-42; ergänzend Verf., Mönche
am Bodensee 610-1525 (zuerst 1978, 31985) S. 102-112.