Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende
85
11. Das Astrolab zwischen Frömmigkeit und Wissenschaft
im 12. Jahrhundert
Die europäische Bewegung des 12. Jahrhunderts, die alle Wissenschaft
aus antikem Geist erneuerte und sich in der scholastischen Universität
eine Heimstätte schuf, vollendete doch auch die monastische Verbin-
dung zwischen Frömmigkeit und Wissenschaft, allerdings mit differen-
zierten Methoden und aufgefächerten Disziplinen. Darum knüpfte sie
noch bei der Klosterreform des 11. Jahrhunderts an, verstand sich aber
nicht mehr als deren Folge.156
Der berühmteste Wortführer der Frühscholastik, der französische
Philosoph Peter Abaelard, und seine Geliebte Heloise setzten um 1118
ein spektakuläres Zeichen: Sie tauften ihr gemeinsames Kind auf den
unerhörten Namen Astralabius. Damit übten sie das von Abaelard stets
betonte souveräne Recht des Menschen aus, Namen nach seiner
Absicht zu schaffen, nicht dem Brauch nachzubeten. Beide Eltern
verstanden so viel Griechisch, daß sie die Grundbedeutung dieses
Eigennamens kannten. Mit seiner Wahl kamen sie scheinbar den
Forderungen Hermanns des Lahmen entgegen: Der Sohn sollte
vielleicht nicht nach den Sternen greifen, sich aber nach ihnen richten
und so die Rationalität des Astrolabs zur Norm seines Lebens
erheben.
In Wahrheit deutete Abaelard jedoch die Zeit nicht als objektive,
zählbare und meßbare Größe, sondern als subjektives Menschenwerk
wie die Sprache. Er verglich also seinen Sohn nicht im Ernst mit einem
mathematischen Präzisionsinstrument. Von dessen chronologischer
Hauptaufgabe hielt er nicht mehr als vom astrologischen Nebenzweck.
Worin er den Sinn der Namengebung sah, erklärte er dem jungen
Astralabius um 1140 lapidar: „Der Törichte wird verändert wie der
unstete Mond; wie die Sonne verbleibt der Weise bei sich.“ Durch
sittliche Festigkeit tritt der philosophische Kopf aus der Trübe
flackernder Nachtlichter heraus in die leuchtende Mitte des Kosmos.
„Denn mehr als die Natur vermag die Philosophie.“ Die Erforschung
156 So übergeht Wolfgang Kluxen, Der Begriff der Wissenschaft, in: Die Renais-
sance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, hg. von Peter Weimar (1981) S.
273-293 die Reihe von Abbo bis Hermann, anders als vor ihm Charles H.
Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century (zuerst 1927, 121967) S.
24-27.
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11. Das Astrolab zwischen Frömmigkeit und Wissenschaft
im 12. Jahrhundert
Die europäische Bewegung des 12. Jahrhunderts, die alle Wissenschaft
aus antikem Geist erneuerte und sich in der scholastischen Universität
eine Heimstätte schuf, vollendete doch auch die monastische Verbin-
dung zwischen Frömmigkeit und Wissenschaft, allerdings mit differen-
zierten Methoden und aufgefächerten Disziplinen. Darum knüpfte sie
noch bei der Klosterreform des 11. Jahrhunderts an, verstand sich aber
nicht mehr als deren Folge.156
Der berühmteste Wortführer der Frühscholastik, der französische
Philosoph Peter Abaelard, und seine Geliebte Heloise setzten um 1118
ein spektakuläres Zeichen: Sie tauften ihr gemeinsames Kind auf den
unerhörten Namen Astralabius. Damit übten sie das von Abaelard stets
betonte souveräne Recht des Menschen aus, Namen nach seiner
Absicht zu schaffen, nicht dem Brauch nachzubeten. Beide Eltern
verstanden so viel Griechisch, daß sie die Grundbedeutung dieses
Eigennamens kannten. Mit seiner Wahl kamen sie scheinbar den
Forderungen Hermanns des Lahmen entgegen: Der Sohn sollte
vielleicht nicht nach den Sternen greifen, sich aber nach ihnen richten
und so die Rationalität des Astrolabs zur Norm seines Lebens
erheben.
In Wahrheit deutete Abaelard jedoch die Zeit nicht als objektive,
zählbare und meßbare Größe, sondern als subjektives Menschenwerk
wie die Sprache. Er verglich also seinen Sohn nicht im Ernst mit einem
mathematischen Präzisionsinstrument. Von dessen chronologischer
Hauptaufgabe hielt er nicht mehr als vom astrologischen Nebenzweck.
Worin er den Sinn der Namengebung sah, erklärte er dem jungen
Astralabius um 1140 lapidar: „Der Törichte wird verändert wie der
unstete Mond; wie die Sonne verbleibt der Weise bei sich.“ Durch
sittliche Festigkeit tritt der philosophische Kopf aus der Trübe
flackernder Nachtlichter heraus in die leuchtende Mitte des Kosmos.
„Denn mehr als die Natur vermag die Philosophie.“ Die Erforschung
156 So übergeht Wolfgang Kluxen, Der Begriff der Wissenschaft, in: Die Renais-
sance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, hg. von Peter Weimar (1981) S.
273-293 die Reihe von Abbo bis Hermann, anders als vor ihm Charles H.
Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century (zuerst 1927, 121967) S.
24-27.