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Biser, Eugen; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1990, 1. Abhandlung): Die Bibel als Medium: zur medienkritischen Schlüsselposition der Theologie; vorgetragen am 27. Januar 1990 — Heidelberg: Winter, 1990

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https://doi.org/10.11588/diglit.48159#0019
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Die Bibel als Medium

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schriftungsaktes, den sie in Analogie zur Menschwerdung und Passion
des ewigen Wortes begriffen, genauer zu bestimmen, als sie gleichzeitig
von dessen „Abbreviatur“ und „Extension“ sprachen. Obwohl das
ewige Wort für Hilarius von Poitiers bei seiner Herablassung in die
Menschenwelt nichts von seiner göttlichen Macht und Herrlichkeit ver-
lor, erfuhr es dabei doch eine Verkleinerung „bis zu Empfängnis, Wiege
und Kindheit“.13 Dagegen erlitt es nach Gregor von Nyssa im Kreuzes-
tod Christi eine „Ausdehnung“, die ungeachtet ihres Passionscharakters
seiner Bestimmung entspricht, „das Universum in sich zu einen“ und die
„verschiedenartigsten Dinge zu einem einheitlichen Ganzen zusammen-
zufassen“.14
Wiederentdeckt in dem Luther-Wort von dem mit dem Verschrif-
tungsakt verbundenen „großen Abbruch“ wirkte der paulinische Ansatz
dann insbesondere in der Neuzeit nach. Der auf den Schultern Luthers
stehende Lessing macht dem Christentum seiner Zeit geradezu zum
Vorwurf, zu einer Reproduktion seiner selbst herabgesunken zu sein.15
Dem Pedanten Mephisto, der von ihm „was Geschriebnes“ fordert, hält
Faust entgegen: „Das Wort erstirbt schon in der Feder“. Und den Gebil-
deten unter den Religionsverächtern gesteht Schleiermacher zu:
Ihr habt Recht, die dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von
einem andern ableiten oder an einer toten Schrift hängen, auf die sie schwören und
aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denk-
mal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und
wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur
ein schwacher Abdruck von ihm sein kann?16
Selbst in Benjamins These vom Verlust der Aura, den das technisch
reproduzierte Kunstwerk erleidet, ist die Nachwirkung des paulinischen
Ansatzes immer noch zu spüren.17 Um so überraschender ist die nur aus
der Insuffizienz des heutigen Medienverständnisses zu erklärende
Beobachtung, daß diese - offensichtlich an den Rand des Kulturbe-
wußtseins abgedrängte - Einsicht zwar auf die Literaturwissenschaft,
13 Hilarius, De Trinitate IX, c. 4.
14 Gregor von Nyssa, Große Katechese, c. 32,2.
15 So vor allem in seiner Flugschrift ,Vom Beweis des Geistes und der Kraft1 (von 1777);
dazu H. Thielicke, Offenbarung, Vernunft und Existenz. Studien zur Religionsphi-
losophie Lessings, Gütersloh 1957, 114ff.; 130f.; 148-156.
16 F. D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern, Leipzig 1911, 77.
17 W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in:
Illuminationen, Frankfurt 1980, 141.
 
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