Die Bibel als Medium
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Damit verglichen befindet sich die Theologie in einem nahezu umge-
kehrten Problemverhältnis. Zwar führte hier die Differenzierung der
historisch-kritischen Methode zu einer ständig verfeinerten Bestim-
mung der biblischen Schriften und der in ihnen verarbeiteten Materia-
lien aus text- und literarkritischer, insbesondere aber form- und redak-
tionsgeschichtlicher Perspektive.27 Und im Zug dieser Forschungsrich-
tung stellte sich ihr überdies in aller Ausdrücklichkeit die Frage nach der
„Buchwerdung des Wortes Gottes“. Indessen drang ihre Einfühlung
dann doch nicht so tief, daß ihr der Mediencharakter des aus diesem
Prozeß hervorgegangenen Buchs, der Bibel also, auch nur in Blick ge-
kommen wäre.28 Dabei ist die Frage der Schriftwerdung, wie der Hin-
weis Lessings auf die schriftlose Phase des Urchristentums zeigt, gerade
für das christliche Selbstverständnis von größtem Gewicht. Denn im Un-
terschied zu Islam und Judentum hat die Gottesoffenbarung nach christ-
lichem Verständnis primär den Charakter der Verkündigung, die erst
infolge innerer und äußerer Antriebe in schriftlichen Dokumenten nie-
dergelegt wurde. Bei dieser unterschiedlichen Gewichtung von Wort
und Text im Urteil der drei Offenbarungsreligionen ist es dann auch
unerheblich, ob der schriftlichen Fixierung ein längerer oder kürzerer
Zeitraum voranging, da sich die Schreiber in diesem Fall auf einen zu-
sätzlichen Impuls, meist in Gestalt eines göttlichen Geheißes - so Jere-
mia (30,2; 36,28) und im Rückgriff auf alttestamentliche Modelle auch
der Verfasser der Apokalypse (1,11) -, zu berufen pflegten.
Grundlegend für die genauere Explikation des Problems ist die Tatsa-
che, daß Jesus, vermutlich aus situativen und nicht etwa programmati-
schen Gründen, keine Aufzeichnungen hinterlassen und auch keinen
Auftrag zur Dokumentation seiner Worte erteilt hat, so daß von ihm
„weder autographische noch unmittelbar protokollarische Schriftzeug-
nisse vorhanden sind“ (Müller).29 Um so mehr ist an der Aufhellung
27 Dazu H. Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung der histo-
risch-kritischen Methode, Stuttgart 1967.
28 Das gilt in erster Linie für die Untersuchung von Herbert Haag, Die Buchwerdung des
Wortes Gottes in der Heiligen Schrift, in: Mysterium Salutis I, Einsiedeln 1965, 289-
428, ebenso aber auch für die schwächere Wiederholung dieser Thematik durch Mein-
rad Limbeck, Die Heilige Schrift, in: Handbuch der Fundamentaltheologie IV, Frei-
burg 1989, 68-99.
29 P.-G. Müller, Der Traditionsprozeß im Neuen Testament, 124. Sicher ist die Mög-
lichkeit auszuschließen, daß Jesus mit seinem Schreibverzicht die Entstehung einer mit
dem Alten Testament konkurrierenden heiligen Schrift verhindern wollte; um so mehr
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Damit verglichen befindet sich die Theologie in einem nahezu umge-
kehrten Problemverhältnis. Zwar führte hier die Differenzierung der
historisch-kritischen Methode zu einer ständig verfeinerten Bestim-
mung der biblischen Schriften und der in ihnen verarbeiteten Materia-
lien aus text- und literarkritischer, insbesondere aber form- und redak-
tionsgeschichtlicher Perspektive.27 Und im Zug dieser Forschungsrich-
tung stellte sich ihr überdies in aller Ausdrücklichkeit die Frage nach der
„Buchwerdung des Wortes Gottes“. Indessen drang ihre Einfühlung
dann doch nicht so tief, daß ihr der Mediencharakter des aus diesem
Prozeß hervorgegangenen Buchs, der Bibel also, auch nur in Blick ge-
kommen wäre.28 Dabei ist die Frage der Schriftwerdung, wie der Hin-
weis Lessings auf die schriftlose Phase des Urchristentums zeigt, gerade
für das christliche Selbstverständnis von größtem Gewicht. Denn im Un-
terschied zu Islam und Judentum hat die Gottesoffenbarung nach christ-
lichem Verständnis primär den Charakter der Verkündigung, die erst
infolge innerer und äußerer Antriebe in schriftlichen Dokumenten nie-
dergelegt wurde. Bei dieser unterschiedlichen Gewichtung von Wort
und Text im Urteil der drei Offenbarungsreligionen ist es dann auch
unerheblich, ob der schriftlichen Fixierung ein längerer oder kürzerer
Zeitraum voranging, da sich die Schreiber in diesem Fall auf einen zu-
sätzlichen Impuls, meist in Gestalt eines göttlichen Geheißes - so Jere-
mia (30,2; 36,28) und im Rückgriff auf alttestamentliche Modelle auch
der Verfasser der Apokalypse (1,11) -, zu berufen pflegten.
Grundlegend für die genauere Explikation des Problems ist die Tatsa-
che, daß Jesus, vermutlich aus situativen und nicht etwa programmati-
schen Gründen, keine Aufzeichnungen hinterlassen und auch keinen
Auftrag zur Dokumentation seiner Worte erteilt hat, so daß von ihm
„weder autographische noch unmittelbar protokollarische Schriftzeug-
nisse vorhanden sind“ (Müller).29 Um so mehr ist an der Aufhellung
27 Dazu H. Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung der histo-
risch-kritischen Methode, Stuttgart 1967.
28 Das gilt in erster Linie für die Untersuchung von Herbert Haag, Die Buchwerdung des
Wortes Gottes in der Heiligen Schrift, in: Mysterium Salutis I, Einsiedeln 1965, 289-
428, ebenso aber auch für die schwächere Wiederholung dieser Thematik durch Mein-
rad Limbeck, Die Heilige Schrift, in: Handbuch der Fundamentaltheologie IV, Frei-
burg 1989, 68-99.
29 P.-G. Müller, Der Traditionsprozeß im Neuen Testament, 124. Sicher ist die Mög-
lichkeit auszuschließen, daß Jesus mit seinem Schreibverzicht die Entstehung einer mit
dem Alten Testament konkurrierenden heiligen Schrift verhindern wollte; um so mehr