Individuelle Freiheit und soziale Bindung
11
III
Obleich man gerade dies nun von Marx nicht lernen kann, legte
dieser in seiner frühen Hegelkritik, in seiner Kritik am Hegelschen
Staatsrecht, dennoch einen Mangel gerade dieser Konstruktion
offen. Marx merkt an, Hegel vergeistige, ja mythologisiere die
empirischen Kollisionen, die er mit seinem Differenzierungsmo-
dell durchaus korrekt beschreibe, und er verkehre das wirkliche
Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum moder-
nen Staat in sein Gegenteil. Statt jene zu den natürlichen und
künstlichen Bedingungen zu machen, aus denen sich der moderne
Staat bilde, würden sie letztlich bloß als das Bedingte behandelt. Sie
würden zu bloßen Daseinsweisen des modernen Staates, damit
aber zu unselbständigen Momenten herabgestuft.11 Nun hatte
Hegel für sein von Marx kritisiertes Vorgehen außer philosophi-
schen auch quasiempirische Gründe. Nicht zuletzt das Studium der
politischen Ökonomie seiner Zeit hatte ihn davon überzeugt, daß
eine vom Besitzindividualismus geprägte bürgerliche Gesellschaft,
bliebe sie sich selbst überlassen, sich selbst zerstören müsse, daß
sie nur ein starker Staat davor bewahren könne. Aber statt von der
subjektiven Freiheit und dem besonderen Interesse auszugehen
und zu fragen, wieviel Beschränkung der individuellen Freiheit
nötig sei, damit die Freiheit aller gesichert bleibe, macht Hegel aus
dieser Kantischen Not in der Tat eine Tugend. Der Staat in seiner
externen und internen Differenzierung wird nicht nur substantiali-
siert, er ist als allseitiger Vermittler zugleich die Mitte, auf die hin
alles konvergiert. Die institutionellen Bereiche werden zu organi-
schen Gliedern einer Totalität, die, indem sie ihre eigene Sphäre
erfüllen, zugleich die anderen Sphären erhalten.12 Das Dif-
ferenzierungsmodell erweist sich als ein institutionell gewendetes
Versöhnungsmodell.
Bekanntlich kritisierte der junge Marx dieses institutionell
gewendete Differenzierungsmodell, ohne das Versöhnungsmodell
11 Karl Marx, Werke-Schriften-Briefe, hrsg. von Hans-Joachim Lieber, Band I,
Darmstadt 1962, S. 259-277 (Analyse der §§ 261-271 von Hegels Rechtsphiloso-
phie).
12 Vgl. Hegel, Band 7, S. 457 (Rechtsphilosophie, § 286). Hegel unterscheidet
ausdrücklich Glied und Teil, Totalität und Ganzes. Ähnlich § 272, wo Hegel
allerdings statt von organischer Totalität von einem individuellen Ganzen
spricht.
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III
Obleich man gerade dies nun von Marx nicht lernen kann, legte
dieser in seiner frühen Hegelkritik, in seiner Kritik am Hegelschen
Staatsrecht, dennoch einen Mangel gerade dieser Konstruktion
offen. Marx merkt an, Hegel vergeistige, ja mythologisiere die
empirischen Kollisionen, die er mit seinem Differenzierungsmo-
dell durchaus korrekt beschreibe, und er verkehre das wirkliche
Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum moder-
nen Staat in sein Gegenteil. Statt jene zu den natürlichen und
künstlichen Bedingungen zu machen, aus denen sich der moderne
Staat bilde, würden sie letztlich bloß als das Bedingte behandelt. Sie
würden zu bloßen Daseinsweisen des modernen Staates, damit
aber zu unselbständigen Momenten herabgestuft.11 Nun hatte
Hegel für sein von Marx kritisiertes Vorgehen außer philosophi-
schen auch quasiempirische Gründe. Nicht zuletzt das Studium der
politischen Ökonomie seiner Zeit hatte ihn davon überzeugt, daß
eine vom Besitzindividualismus geprägte bürgerliche Gesellschaft,
bliebe sie sich selbst überlassen, sich selbst zerstören müsse, daß
sie nur ein starker Staat davor bewahren könne. Aber statt von der
subjektiven Freiheit und dem besonderen Interesse auszugehen
und zu fragen, wieviel Beschränkung der individuellen Freiheit
nötig sei, damit die Freiheit aller gesichert bleibe, macht Hegel aus
dieser Kantischen Not in der Tat eine Tugend. Der Staat in seiner
externen und internen Differenzierung wird nicht nur substantiali-
siert, er ist als allseitiger Vermittler zugleich die Mitte, auf die hin
alles konvergiert. Die institutionellen Bereiche werden zu organi-
schen Gliedern einer Totalität, die, indem sie ihre eigene Sphäre
erfüllen, zugleich die anderen Sphären erhalten.12 Das Dif-
ferenzierungsmodell erweist sich als ein institutionell gewendetes
Versöhnungsmodell.
Bekanntlich kritisierte der junge Marx dieses institutionell
gewendete Differenzierungsmodell, ohne das Versöhnungsmodell
11 Karl Marx, Werke-Schriften-Briefe, hrsg. von Hans-Joachim Lieber, Band I,
Darmstadt 1962, S. 259-277 (Analyse der §§ 261-271 von Hegels Rechtsphiloso-
phie).
12 Vgl. Hegel, Band 7, S. 457 (Rechtsphilosophie, § 286). Hegel unterscheidet
ausdrücklich Glied und Teil, Totalität und Ganzes. Ähnlich § 272, wo Hegel
allerdings statt von organischer Totalität von einem individuellen Ganzen
spricht.