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Wolgast, Eike [Editor]; Seebaß, Gottfried [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Editor]; Sehling, Emil [Bibliogr. antecedent]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (1. Band = 1. Abtheilung, 1. Hälfte): Die Ordnungen Luthers, die Ernestinischen und Albertinischen Gebiete — Leipzig: O.R. Reisland, 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.26586#0011
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Vorwort.

VII

schwebte, erwies sich als undurchführbar. Wenn der „Unterricht der Visitatoren an die Pfarr-
herrn im Curfürstenthum Sachsen“ von seinen eigenen Sätzen bemerkt: „Und wie wol wir
solches nicht als strenge gebot konnen lassen ausgehen, auf das wir nicht neue bepstliche
decretales aufwerfen, sondern als eine historien oder geschicht, dazu als ein zeugniss und be-
kenntniss unsers glaubens“, so spricht er doch gleichzeitig die Hoffnung aus, „dass alle frume
fridsame pfarher, welchen das evangelium mit ernst gefallet und lust haben, einmütiglich und
gleich mit uns zu halten“, und entwickelt weiter den Grundsatz, dass Diejenigen, welche „von
grund ein sonderlichs wolten machen“, wie die Spreu vom Weizen gesondert werden müssen,
und zwar mit Hülfe des hierzu angerufenen Landesherrn als des Wahrers von Eintracht und
Frieden. Ganz im Gegensatz zu der von Luther als Ideal geforderten Freiheit in Ceremonien
ertönt gar bald von vielen Seiten der Ruf nach Gleichmässigkeit, und zahlreiche Kirchen-Ord-
nungen enthalten darauf hinzielende Verfügungen, die allerdings durch ihre Häufigkeit zugleich
den Beweis für ihre Nothwendigkeit erbringen.
Wenn man aber der freiheitlichen Gestaltung der Dinge, der Entwickelung aus sich
selbst heraus keinen Raum mehr gewähren, wenn man mit weltlichem Zwange Ordnung schaffen
wollte und gegen Widerstrebende sogar musste, so war die Mitwirkung der Obrigkeit unerläss-
lich. Schon Luther legte seine ersten Messreformen dem Fürsten zur Genehmigung vor. (Vgl.
Enders, Briefwechsel V, 27.) So nahmen denn, von den Reformatoren gerufen, Fürsten und
Städte die Reformirung als eine ihnen von Gott in ihrem Lande zugewiesene Aufgabe in die
Hand. Die Zeitverhältnisse, die Zerrüttung der kirchlichen Dinge, das Sectenwesen, Bauern-
unruhen u. s. w., gaben den Obrigkeiten selbst den Anlass, nicht mehr unthätig zu bleiben,
sondern entscheidend einzugreifen, wie es ja schon die vorreformatorischen Landesherrn gethan
hatten, wenn die Kirche ihrerseits versagte. Auch waren die Fragen der Organisation der
Kirche, welche jetzt, nachdem die Rechtsformen der alten Kirche sich nicht mehr übertragen
liessen, in den Vordergrund traten, nicht auf dem Wege von Ordnungen einzelner Pfarrer lösbar.
Die Landesherren führen die Reformation durch: sie ordnen die Visitationen an, sie
geben die dazu erforderlichen Instruktionen, und als die Visitationen zu dauernden Institutionen
führen, erlassen sie die nöthigen Ordnungen. Die Ordnungen für die Kirche werden obrigkeit-
liche, d. h. landesherrliche oder städtische. Sie erstrecken sich auf alle Zweige des äusseren
und inneren kirchlichen Lebens und bilden den Hauptbestandtheil einer Sammlung der evan-
gelischen Kirchen-Ordnungen.
Den Rechtscharakter dieser Ordnungen, insbesondere auf der Grundlage der damaligen
theoretischen Anschauungen über das Verhältniss von Staat und Kirche zu untersuchen, ist hier
nicht der Platz.
Sie sind juristisch in keiner Beziehung von dem sonstigen Landesrecht verschieden.
Dass sich die Fürsten bei dem Erlasse ihrer Ordnungen mehr oder weniger durch ihre Theologen
beeinflussen liessen, ja dass diese häufig als die eigentlichen Verfasser der Ordnungen zu be-
zeichnen sind, ändert daran nichts. Eine rechtlich konstruirbare Schranke war das nicht, und
über eine Theilnahme an den Vorarbeiten der Gesetze (die bei dem Endzwecke der Gesetzgebung,
der Erhaltung richtiger Lehr- und Sakramentsverwaltung nur zu natürlich war), ist die Mit-
wirkung des Lehrstandes nicht hinausgegangen.
Eine wahre Schranke bestand vielfach in den Ständen, und diese haben in der That
auch häufig bei der Abfassung mitgewirkt. Aber auch diese Schranke fiel im Laufe des 16. Jahr-
hunderts. Dass in den republikanisch organisirten Städten die ganze Gemeinde durch ihre
Repräsentation an der Rechtsbildung betheiligt war, liegt auf der Hand. Interessant ist dabei
die Rechtslage der landsässigen Städte. Diese gingen vielfach ohne Zustimmung des Landes-
herrn mit Rechtsbildung vor, und zwar nicht nur diejenigen Städte, welche sich einer gewissen
Selbständigkeit erfreuten (ohne eigentliche Reichsstädte zu sein), sondern auch die völlig unter-
 
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