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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (1. Band = 1. Abtheilung, 1. Hälfte): Die Ordnungen Luthers, die Ernestinischen und Albertinischen Gebiete — Leipzig: O.R. Reisland, 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.26586#0030
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Martin Luther. I. Gottesdienstordnungen.

1. Von ordenung gottis diensts in der gemeine. 1523.

Luther hatte der Gemeinde Leisnig am 29. Januar 1523 eine Ordnung versprochen „zu
singen und beten und lesen“. Als Einlösung dieses Versprechens erschien kurz nach Ostern
die vorliegende Schrift. Ich nehme mit Kawerau (Luthers Werke, Weimar 1891. 12, 32) an,
dass sie erst, nachdem in Wittenberg die Reform des Gottesdienstes im Sinne Luther’s erfolgt
war, und zwar zu dem Zwecke ergangen ist, anderen Gemeinden als Vorbild zu dienen — nicht
also, dass sie für die Wittenberger Gemeinde bestimmt gewesen ist, um dieser die beabsichtigten
Reformen anzukündigen. (Kolde, Luther 2, 107. Derselbe in Gott, geh Anz. 1892 S. 575.)
Zu den Ausgaben vgl. Kawerau, welcher zehn Drucke von 1523, ausserdem Drucke
in drei Sammlungen von 1523 bezw. 1523 bezw. 1526 nennt. In den Gesammtausgaben der
Werke Luther’s findet sie sich: Jena (1558) 2, RI. 257b—259a; (1572) 2, Bl. 235—236a;
Altenburg 2, 332. 333; Leipzig 22, 226. 227; Walch 10, Sp. 263—267; Erlangen 22, 151
bis 156; Weimar 12, 35—37. Ausserdem ist sie gedruckt bei Richter, Ko., 1, 1; Daniel,
Codex liturg. 2, 75—80.
Hier erfolgt der Abdruck nach der Weimarer Ausgabe*).

Der gottis dienst, der itzt allenthalben gehet,
hat ein christliche feine ankunft gleich wie auch
das predigamt. Aber gleich wie das predigamt
verderbt ist durch die geistlichen tyrannen, also
ist auch der gottis dienst verderbt durch die
heuchler. Wie wir nu das predigampt nicht abe-
thun, sondern wider in sein rechten stand be-
geren zu brengen, so ist auch nicht unser meinung,
den gottis dienst auf zuheben, sondern wider
in rechten schwang zu bringen.
Drei grosse missbreuch sind in den gottis
dienst gefallen. Der erst, das man gottis wort
geschwigen hat, und alleine gelesen und gesungen
in den kirchen, das ist der ergiste missbrauch.
Der ander, da gottis wort geschwigen gewesen
ist, sind neben ein komen so viel unchristlicher
fabeln und lugen, beide in legenden, gesange
und predigen, das greulich ist zu sehen. Der
dritte, das man solchen gottis dienst als ein werck
than hat, da mit gottis gnade und selickeit zur
werben, da ist der glaub untergangen, und hat
iderman zu kirchen geben, stiften, pfaff, munch
und nonnen werden wollen.
Nu dise missbreuch abzuthun, ist aufs erst
zu wissen, das die christlich gemeine nimer soll
zu samen komen, es werde denn da selbs gottis
wort gepredigt und gebett, es sei auch aufs kurzist.
Wie Psalm. 101 cWenn die konige und das volk
zu samen kompt gott zu dienen, sollen sie gottis
namen und lob verkundigen’. Und Paulus 1.
Corin. 14. spricht, das in der gemeine soll ge-
weissagt, gelert und ermanet werden. Darumb
wo nicht gotts wort predigt wirt, ists besser, das
man wider singe noch lese, noch zu samen kome.
Also ists aber zu gangen unter den christen
zur zeit der apostel, und sollt auch noch so zu
gehen, das man teglich des morgens eine stunde

frue umb vier oder funfe zu samen keme und
daselbs lesen liesse, es seien schuler oder priester,
oder wer es sei, gleich wie man itzt noch die
lection in der metten lieset. Das sollen thun
einer oder zween,, oder einer umb den andern,
oder ein chor umb den andern, wie das am
besten gefellet.
Darnach soll der prediger oder welchem es
befolhen wirt, er fur treten und die selb lection
ein stuck aus legen, das die andern alle verstehen,
lernen und ermanet werden. Das erst werk
heist Paulus 1. Corin. 14 'mit zungen reden'.
Das ander 'auslegen' odder'weissagen' und 'mit
dem sinn oder verstand reden'. Und wo dis
nicht geschicht, so ist die gemeine der lection
nichts gebessert, wie bis her in klostern und
stiften geschehen, da sie nur die wende haben
angeblehet.
Dise lection soll aber sein aus dem alten
testament, nemlich das man ein buch fur sich
neme und ein capitel oder zwei oder ein
halbes lese, bis es aus sei, dar nach ein anders
fur nemen, und so fort an, bis die ganze biblia
aus gelesen werde, und wo man sie nicht verstehe,
das man fur uber fare und got ehre. Also das
durch tegliche ubunge der schrift die christen
in der schrift verstendig, leuftig und kundig
werden. Denn daher wurden vorzeiten gar feine
christen, iungfrauen und merterer, und sollten
wol auch noch werden.
Wenn nu die lection und auslegung ein
halb stund oder lenger geweret hat, sol man
drauf in gemein got danken, loben und bitten
umb frucht des worts etc. Dazu soll man brauchen
der psalmen und etlicher guten responsoria,
antiphon, kurz also, das es alles in einer
stund ausgerichtet werde, oder wie lange sie

*) Die Varianten sowie die biblischen Citate sind hier wie in allen folgenden Luther-Texten weggelassen;
auch ist die Schreibweise vereinfacht.
 
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