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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]; Dörner, Gerald [Bearb.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (7. Band = Niedersachsen, 2. Hälfte, 2. Halbband, 2. Teil): Grafschaft Schaumburg, Goslar, Bremen — Tübingen: Mohr Siebeck, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.30840#0214
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Goslar

laus von Amsdorf in seiner 1531 in Magdeburg gedruckten Schrift „Ursache, warum die beiden Prädikanten
Johann Grawert und Heinrich Knigge aus Goslar vertrieben sind“ von den Vorgängen gibt151. Darin wirft
Amsdorf den beiden Geistlichen vor, die zwinglischen argument und materi geprediget und yns volck gebleut
[geprügelt] zu haben152. Heinrich Grawert, ehemaliger Mönch des Augustinereremitenordens, war aus Mag-
deburg nach Goslar gekommen und hatte hier die Stelle eines Kaplans der Marktkirche erhalten. In Mag-
deburg selbst hatte Grawert zu den ersten evangelischen Predigern gehört, zunächst als Kaplan an St. Am-
brosius in der Vorstadt Sudenburg, dann, nach seiner dortigen Absetzung, am Gertrudenhospital und auf
dem Bauhof des Rates vor der Stadt und schließlich an der Jakobikirche153. Heinrich Knigge war hingegen
1529 aus Braunschweig nach Goslar gekommen und hatte hier als Pfarrer an St. Stephani die Nachfolge von
Anton Corvinus angetreten. Die Stadt Braunschweig hatte er, nicht zuletzt auf Drängen Johannes Bugen-
hagens, wegen des Vorwurfs „zwinglianischer“ Umtriebe verlassen müssen154.
Nach der Ankunft in Goslar scheint Amsdorf zunächst Grawert und Knigge in seinen Predigten mit
macht angegrieffen und dann mit beiden vor dem Rat in Gegenwart der anderen Geistlichen der Stadt
disputiert zu haben155. Das Ergebnis der auf dem Rathaus abgehaltenen Disputation war die Entlassung
Grawerts und Knigges und ihre Ausweisung aus der Stadt. Auszüge aus den Verhandlungen der Disputation
mit den Hauptvoten der Beteiligten sind im Bestand B 4562 des Stadtarchivs Goslar überliefert. Gegen-
stand der Gespräche war erstens die von Heinrich Knigge christologisch-sakramentstheologisch gedeutete
Stelle Kol 3,1, die er mit dem Vater unser in Verbindung brachte, zum zweiten die Frage, ob Judas Ischariot
beim letzten Mahl vor der Kreuzigung den Leib und das Blut Christi genossen habe, und zum dritten das
Problem, ob durch das Sakrament Vergebung der Sünden erlangt werden könne156.
Selbst gegen den verstorbenen Superintendenten Johannes Amandus war der Vorwurf des Zwinglianis-
mus laut geworden, wie Corvinus in seinem „Warhafftig bericht“ notiert, wobei er die Haltlosigkeit der
Anschuldigungen betont157. Die Lehrstreitigkeiten haben ihren Niederschlag im ersten Teil der von Amsdorf
1531 im Auftrag des Rates verfaßten Kirchenordnung gefunden: Die Pfarrer und Kapläne geloben bei ihrer
Annahme, das Evangelium ohn allen zusatz undt schwermerey zu predigen und sich von den Lehren Zwinglis,
Schwenckfelds, Jakob Kautz’ und der Täufer zu distanzieren158.
Einen Schwerpunkt der Kirchenordnung bildet die Gestaltung der Gottesdienste in den Pfarrkirchen
(die Thomaskirche bleibt dabei weiterhin ausgenommen) und die Regelung der Kasualien. Die Zeiten der
Gottesdienste weichen von denen in der entsprechenden Ordnung von 1528 (Nr. 4) ab: Die Frühmesse am
Sonntag findet jetzt nur noch in der Marktkirche statt und nicht mehr, wie bisher, in allen Pfarrkirchen.
Der Gottesdienst am Sonntagnachmittag ist nunmehr als Katechismuspredigt angelegt. Was den Ablauf
der Gottesdienste anbelangt, orientiert sich Amsdorf wie in der von ihm verfaßten Gottesdienstordnung
(„Vom teglichen gots dinst“) an Luthers „Deutscher Messe“. Für die Predigt ist die Auslegung des Evan-
geliums mit Hilfe von Luthers Postillen vorgesehen. Der Abendmahlsteil beschränkt sich jetzt auf Ermah-

151 Amsdorfs Schrift ist abgedruckt in Flugschriften vom
Bauernkrieg zum Täuferreich 1, S. 305-313.
152 Ebd., S. 305.
153 Zu Johann Grawert vgl. Koch, Zwinglianer, S. 523f., der
dort auch kurz den in der Forschung der DDR ausgetra-
genen Streit um die Frage referiert, ob Grawert von Tho-
mas Müntzer beeinflußt sei oder nicht. Möglicherweise
hatte Grawerts Tätigkeit den Magdeburger Rat sogar
dazu veranlaßt, Amsdorf nach Magdeburg zu holen.
154 Ebd., S. 530-532.
155 Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich 1,
S. 305.
156 Eine kurze Darstellung der Disputation bei Koch,
Zwinglianer, S. 532f. Knigge betont in seiner 1532 veröf-

fentlichten Schrift „Warhafftyge bekentenisse unde rechte
berichtynge der lere, so ick by den von Goßlar vor der
gemeine gepredighet [...] hebbe“ [Hamburg: Georg
Richolff d. J.] 1532 (VD 16, K 1463), Bl. D 4v ausdrück-
lich, eines seiner Hauptanliegen sei es gewesen, die
Gemeinde vom Irrtum abzubringen, das Sakrament
bewirke die Vergebung der Sünden.
157 Corvinus, Warhafftig bericht (1529), Bl. B 3r-v.
158 In seinem Beitrag „Zwinglianer zwischen Ostsee und
Harz“ (S. 533) äußert Ernst Koch seine Zweifel, ob die
Bezeichnung ’Zwinglianer’ angemessen ist: „Versucht man
eine Zusammenschau der theologischen Äußerungen der
Goslarer ’Zwinglianer’, so drängen sich [...] Parallelen zu
Schwenckfeld auf“.

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