2.2 Erkenntnisinteressen: Philosophie und Seelsorge
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grundsätzliche ethische Fragen, die dem Leser in direkter Anrede auseinander-
gesetzt wurden.
Dabei war es weniger das gute Gewissen, das im Zentrum der Texte stand, als
vielmehr jenes, das der Hilfe bedurfte. Gelehrt wurden Strategien zur Wieder-
herstellung einer conscientia bona nach dem Fehltritt - wohl, weil diese Konstel-
lation den Normalzustand darstellte und die dringende Erfordernis für einen
Menschen war, der, wie man meinte, im Zustand der Sünde lebte.
Bereits Origenes hatte die Qualen eines schlechten Gewissens mit denen der
Hölle in Verbindung gebracht, als er das Feuer des Endgerichts im Menschen
selbst vorortete, wo dessen mit Sünden überladene Seele sich selbst entflammt:
„Der menschliche Geist selbst, das Gewissen, hat durch göttliche Kraft alles in sein
Gedächtnis aufgenommen, er hat beim Sündigen in sich selbst gewisse Zeichen und
Figuren eingeprägt, und so wird er alles Häßliche, Schändliche oder gar Gottlose,
das er getan hat, vor seinen Augen ausgebreitet sehen, sozusagen eine Geschichte
seiner Untaten. Dann wird das Gewissen selbst durch seinen eigenen Stachel getrie-
ben und gepeinigt; es wird Ankläger und Zeuge gegen sich selbst. [...] Hieraus er-
kennt man, daß es Qualen gibt, die im Bereich der Seelensubstanz selbst entstehen,
unmittelbar aus den schlimmen Affekten der Sünden.“91
So seien die Qualen des Gewissens die bereits während des Lebens einsetzenden
Strafen des Endgerichts: „Nicht Gott schickt den Menschen in die Hölle, son-
dern er selbst bringt sich durch sein schlimmes Verhalten in eine höllische Lage
und leidet darunter.“92 Für Luther (f 1546) war das schlechte Gewissen eine
böse Bestie, die den Menschen gegen sich selbst antreten ließ.93
Eine solche Analogisiserung der Gewissensqualen mit der Hölle findet sich
auch beim Zisterzienser Alain de Lille (f 1202), der die dritte der von ihm be-
schriebenen vier Höllen als Ort jener Qualen identifizierte, die der Wurm des Ge-
wissens verursacht.94 Sein Ordensbruder Bernhard von Clairvaux wiederum
hatte darauf hingewiesen, dass „der Schmerz über die Sünden notwendig“ sei,
91 „[...] cum etiam mens ipsa vel conscientia per divinam virtutem omnia in memoriam recipiens,
quorum in semet ipsa signa quaedeam ac formas, cum peccaret, expresserat, et singulorum, quae
vel foede ac turpiter gesserat vel etiam impie commiserat, historiam quandam scelerum suorum
ante oculos videbit expositam: tune et ipsa conscientia propriis stimulis agitur atque conpungi-
tur et sui ipsa efficitur accusatrix et testis. [...] Ex quo intelligitur quod circa ipsam animae
substantiam tormenta quaedam ex ipsis peccatorum noxiis affectibus generantur.“ Origenes,
De principiis, Üb. II, cap. X.4, S. 428, 430 (Übersetzung: ebd., S. 429, 431).
92 G. Minois, Die Hölle, S. 128.
93 „Conscientia est mala bestia, quae facit hominen stare contra se ipsum.“ M. Luther, Genesis-
vorlesung (1535-45), in: WA 44, S. 545.
94 „Huie inferno non deest conscientie vermis quo vexatur animus peccatoris.“ Alain de Lille,
Facihus descensus Averni, in: M.-Th. D’Alverni, Variations sur un theme de Virgile, S. 1522-8,
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grundsätzliche ethische Fragen, die dem Leser in direkter Anrede auseinander-
gesetzt wurden.
Dabei war es weniger das gute Gewissen, das im Zentrum der Texte stand, als
vielmehr jenes, das der Hilfe bedurfte. Gelehrt wurden Strategien zur Wieder-
herstellung einer conscientia bona nach dem Fehltritt - wohl, weil diese Konstel-
lation den Normalzustand darstellte und die dringende Erfordernis für einen
Menschen war, der, wie man meinte, im Zustand der Sünde lebte.
Bereits Origenes hatte die Qualen eines schlechten Gewissens mit denen der
Hölle in Verbindung gebracht, als er das Feuer des Endgerichts im Menschen
selbst vorortete, wo dessen mit Sünden überladene Seele sich selbst entflammt:
„Der menschliche Geist selbst, das Gewissen, hat durch göttliche Kraft alles in sein
Gedächtnis aufgenommen, er hat beim Sündigen in sich selbst gewisse Zeichen und
Figuren eingeprägt, und so wird er alles Häßliche, Schändliche oder gar Gottlose,
das er getan hat, vor seinen Augen ausgebreitet sehen, sozusagen eine Geschichte
seiner Untaten. Dann wird das Gewissen selbst durch seinen eigenen Stachel getrie-
ben und gepeinigt; es wird Ankläger und Zeuge gegen sich selbst. [...] Hieraus er-
kennt man, daß es Qualen gibt, die im Bereich der Seelensubstanz selbst entstehen,
unmittelbar aus den schlimmen Affekten der Sünden.“91
So seien die Qualen des Gewissens die bereits während des Lebens einsetzenden
Strafen des Endgerichts: „Nicht Gott schickt den Menschen in die Hölle, son-
dern er selbst bringt sich durch sein schlimmes Verhalten in eine höllische Lage
und leidet darunter.“92 Für Luther (f 1546) war das schlechte Gewissen eine
böse Bestie, die den Menschen gegen sich selbst antreten ließ.93
Eine solche Analogisiserung der Gewissensqualen mit der Hölle findet sich
auch beim Zisterzienser Alain de Lille (f 1202), der die dritte der von ihm be-
schriebenen vier Höllen als Ort jener Qualen identifizierte, die der Wurm des Ge-
wissens verursacht.94 Sein Ordensbruder Bernhard von Clairvaux wiederum
hatte darauf hingewiesen, dass „der Schmerz über die Sünden notwendig“ sei,
91 „[...] cum etiam mens ipsa vel conscientia per divinam virtutem omnia in memoriam recipiens,
quorum in semet ipsa signa quaedeam ac formas, cum peccaret, expresserat, et singulorum, quae
vel foede ac turpiter gesserat vel etiam impie commiserat, historiam quandam scelerum suorum
ante oculos videbit expositam: tune et ipsa conscientia propriis stimulis agitur atque conpungi-
tur et sui ipsa efficitur accusatrix et testis. [...] Ex quo intelligitur quod circa ipsam animae
substantiam tormenta quaedam ex ipsis peccatorum noxiis affectibus generantur.“ Origenes,
De principiis, Üb. II, cap. X.4, S. 428, 430 (Übersetzung: ebd., S. 429, 431).
92 G. Minois, Die Hölle, S. 128.
93 „Conscientia est mala bestia, quae facit hominen stare contra se ipsum.“ M. Luther, Genesis-
vorlesung (1535-45), in: WA 44, S. 545.
94 „Huie inferno non deest conscientie vermis quo vexatur animus peccatoris.“ Alain de Lille,
Facihus descensus Averni, in: M.-Th. D’Alverni, Variations sur un theme de Virgile, S. 1522-8,