Das urkirchliche Ideal der Franziskaner als Maßstab der Kirche I 75
seinem schöpfungstheologischen Ansatz und der mit diesem verbundenen Über-
zeugung, dass jedem Menschen bestimmte potestates zukommen. Im Ergebnis
sehen beide, Ockham wie Marsilius, das Imperium als eine vom Volk, nicht un-
mittelbar von Gott begründete Herrschaftsform130 - so wie alle anderen Herr-
schaften auch131. So interpretiert, ist der Kaiser vom Papst gänzlich unabhängig,
verfügt über eine Macht eigenen Rechts, die nur einem untersteht: Gott allein132.
Wilhelm von Ockham musste mit etwa vierzig Jahren einen radikalen Wechsel
seiner Pläne vornehmen: Als Sententiar in Oxford und dann als Lektor wohl am
Londoner Ordensstudium133 gehörte er zu dem wissenschaftlich herausragen-
den Nachwuchs der Franziskaner. Doch die Anklage vonseiten seines Universi-
tätskanzlers, die wohl nicht zuletzt auch durch länger anhaltende Streitigkeiten
zwischen der Universität und den Mendikanten in Oxford provoziert worden
war134, brachte eine jähe Unterbrechung: Der junge Gelehrte musste sich in Avi-
gnon der Anklage stellen - und geriet hier wiederum in die Auseinandersetzun-
gen seines Ordens mit dem Papst.
Diese Anliegen hat Ockham sich in eminenter Weise zu Eigen gemacht: Er
nutzte seine scholastische Ausbildung, um ein hochreflektiertes Verstehensmo-
dell für Fragen des Eigentums und der Armut zu entwerfen. Wie sehr er bereit
und in der Lage war, sich in neue Fragestellungen hineinzudenken, zeigt dann
die Übertragung eben dieser Reflexionen in einen weiteren Bereich: auf die
Frage der kaiserlichen Herrschaft. In deren Interpretation folgte er seiner „fran-
ziskanischen Option“ - und entwarf zugleich ein Modell der Unabhängigkeit
weltlicher Gewalt von der Kirche, dessen grundsätzliche Überlegungen weit
über den momentanen Konflikt hinausweisen.
Prof. Dr. Volker Leppin
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institut für Spätmittelalter und Reformation
Lehrstuhl für Kirchengeschichte I
Liebermeisterstraße 12
72076 Tübingen
130 Ockham, Breviloquium III, 14,5f. (Ockham, Opera Politica IV [wie Anm. 115], S. 189): Unde
et populus[Romanns]potestatem condendi leges transtulit [in] imperatorem.
131 Ockham, Breviloquium 111,14,9-11 (Ockham, Opera Politica IV [wie Anm. 115], S. 189).
132 Ockham, Breviloquium IV,6,10f. (Ockham, Opera Politica IV [wie Anm. 115], S. 203).
133 Leppin, Ockham (wie Anm. 2), S. 87-91.
134 Leppin, Ockham (wie Anm. 2), S. 42-47.
seinem schöpfungstheologischen Ansatz und der mit diesem verbundenen Über-
zeugung, dass jedem Menschen bestimmte potestates zukommen. Im Ergebnis
sehen beide, Ockham wie Marsilius, das Imperium als eine vom Volk, nicht un-
mittelbar von Gott begründete Herrschaftsform130 - so wie alle anderen Herr-
schaften auch131. So interpretiert, ist der Kaiser vom Papst gänzlich unabhängig,
verfügt über eine Macht eigenen Rechts, die nur einem untersteht: Gott allein132.
Wilhelm von Ockham musste mit etwa vierzig Jahren einen radikalen Wechsel
seiner Pläne vornehmen: Als Sententiar in Oxford und dann als Lektor wohl am
Londoner Ordensstudium133 gehörte er zu dem wissenschaftlich herausragen-
den Nachwuchs der Franziskaner. Doch die Anklage vonseiten seines Universi-
tätskanzlers, die wohl nicht zuletzt auch durch länger anhaltende Streitigkeiten
zwischen der Universität und den Mendikanten in Oxford provoziert worden
war134, brachte eine jähe Unterbrechung: Der junge Gelehrte musste sich in Avi-
gnon der Anklage stellen - und geriet hier wiederum in die Auseinandersetzun-
gen seines Ordens mit dem Papst.
Diese Anliegen hat Ockham sich in eminenter Weise zu Eigen gemacht: Er
nutzte seine scholastische Ausbildung, um ein hochreflektiertes Verstehensmo-
dell für Fragen des Eigentums und der Armut zu entwerfen. Wie sehr er bereit
und in der Lage war, sich in neue Fragestellungen hineinzudenken, zeigt dann
die Übertragung eben dieser Reflexionen in einen weiteren Bereich: auf die
Frage der kaiserlichen Herrschaft. In deren Interpretation folgte er seiner „fran-
ziskanischen Option“ - und entwarf zugleich ein Modell der Unabhängigkeit
weltlicher Gewalt von der Kirche, dessen grundsätzliche Überlegungen weit
über den momentanen Konflikt hinausweisen.
Prof. Dr. Volker Leppin
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institut für Spätmittelalter und Reformation
Lehrstuhl für Kirchengeschichte I
Liebermeisterstraße 12
72076 Tübingen
130 Ockham, Breviloquium III, 14,5f. (Ockham, Opera Politica IV [wie Anm. 115], S. 189): Unde
et populus[Romanns]potestatem condendi leges transtulit [in] imperatorem.
131 Ockham, Breviloquium 111,14,9-11 (Ockham, Opera Politica IV [wie Anm. 115], S. 189).
132 Ockham, Breviloquium IV,6,10f. (Ockham, Opera Politica IV [wie Anm. 115], S. 203).
133 Leppin, Ockham (wie Anm. 2), S. 87-91.
134 Leppin, Ockham (wie Anm. 2), S. 42-47.