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Anzulewicz, Henryk; Breitenstein, Mirko [Hrsg.]; Melville, Gert [Hrsg.]
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens: Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte — Klöster als Innovationslabore, Band 6: Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.54634#0084
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80 I Jörg Sonntag

um die in dieser Eingangsgeschichte anklingende Sakralität der Regeln - um die
keiner Worte mehr bedürfende Heiligkeit des Wortes also - und um deren Wirk-
macht. Fest steht bereits jetzt: Das dynamische Spannungsfeld religiöser, politi-
scher oder rechtlicher Interessen, in dem die ca. 30 bekannten religiösen Regeln
des Mittelalters Autorität und Strahlkraft gewannen oder verloren, ist außer-
ordentlich komplex.
Autorität, Strahlkraft und Wirkmacht scheinen sich zuallererst aus den Re-
geln selbst zu generieren. Sei es die Augustinus-, Benedikts-, Basilius-, Ste-
phans-, Franziskus-, Karmeliten- oder die Birgittenregel - sie alle wurden, im
kollektiven Bewusstsein jedenfalls, geradezu systemisch notwendigerweise von
Autoritäten verfasst, die im Ruf der Heiligkeit standen. Aus moderner Perspek-
tive könnte man sogar meinen, ein sicherer Weg zur Heiligsprechung lag in der
Abfassung einer wirkmächtigen Regel.
1. Systeminterne Faktoren für Autorität und Wirkmacht
Sacra Scnptura est regula fidel. Dieser Lehrsatz durchzog dennoch die geist-
lichen Literaturen spätestens seit dem 4. Jahrhundert. Viele Religiöse wollten
allein dieser Regel, dem Evangelium, folgen. Zu nennen wären etwa die frühen
Anhänger des zotteligen Outsiders Robert von Arbrissel (J 1116), des im Buß-
gewand wandelnden Norbert von Xanten (f 1134), des Küchendienst leisten-
den Stephan von Obazine (f 1159), des Muttermilch trinkenden Gerardo Sega-
relli (J 1300) oder des barfüßigen Regelkritikers Stephan von Muret (f 1124). Im
dahingehend immer wieder ins Feld geführten Liber de doctrina ist nieder-
geschrieben, was diesen Stephan bewegte. Dort heißt es, dass auch die Regel
Benedikts, die freilich von der des Basilius überragt würde, nur Regel heißen
und als heilig gelten könne, weil sie sich wie alle anderen auch aus dem Evange-
lium, der eigentlichen sacra regula, speise.2 Tatsächlich waren Regeln interpre-
tatorische Richtlinien zur Umsetzung der Rollenmodelle des Evangeliums, al-
len voran der Imitation Christi und seiner Apostel oder Johannes des Täufers,
und namentlich Richtlinien zur Umsetzung der evangelischen Räte, wie es
nicht wenige Kanonisten, beispielsweise Goffredus de Trano (f 1245) oder
Bernhard von Parma (f 1263) im 13. Jahrhundert, als Kennzeichen der vita re-
ligiosa festschrieben.3
2 Liber de doctrina, in: Scriptores ordinis Grandimontenses, hg. v. Johannes Becquet (Cor-
pus Christianorum Continuatio Mediaevalis 8), Turnhout 1968, S. 5.
3 Ausführlich hierzu und mit Nachweisen Gert Melville, Regeln - Consuetudines-Texte -
Statuten. Positionen für eine Typologie des normativen Schrifttums religiöser Gemeinschaf-
 
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