Die Welt in Geschichten erfassen I 225
lässt sich hier in gewisser Weise auch das an einer zweigliedrigen Gesellschafts-
hierarchie ausgerichtete Bonum universale de aptbus des Thomas von Cantim-
pre (ca. 1200-1263/70) verorten.13 Schließlich sei auf zwei gegensätzliche Typen
verwiesen, die keinem übergeordneten Deutungsschema, sondern vielmehr
Aspekten der Nutzung und Anwendbarkeit folgen: Einerseits eine alphabeti-
sche Anordnung von Exempeln nach den Stichworten ihrer Hauptaussage, wie
sie etwa Arnold von Lüttich (gest. 1308) in seinem Alphabetum narrationum
vornahm,14 oder andererseits eine thematisch ungeordnete Zusammenstellung
oder Aneinanderreihung von Exempeln, wie sie beispielsweise in der Kompila-
tion eines anonymen Dominikaners aus Cambridge zu finden ist.15
Unabhängig von dem jeweiligen Ordnungsschema zeichnet alle Textsamm-
lungen eine konzeptionelle Spannung aus: So steht dem Anspruch, einzelne Bei-
spiele sinnhaft zu einem Erzählzusammenhang bzw. einer Gesamtstruktur an-
zuordnen (die dem mittelalterlichen Leser/Hörer, der den Text vornehmlich
auszugsweise konsumierte, im gesamten Umfang wahrscheinlich gar nicht ein-
sichtig war) die Herausforderung gegenüber, die einzelnen Beispiele so auszu-
wählen, dass ein lebensweltlicher Konnex rasch begreifbar und jede Geschichte
für sich verstehbar war.
Auf besonders eindrückliche Weise wurde diese Spannung von dem Prediger
Jakob von Vitry (1160/70-1240) bewältigt. Seine Sermones feriales et communes,
die sogenannten „Wochentags- und Alltagspredigten“, waren als Abfolge von
Modellpredigten über die Schöpfung Gottes und die Sünden des Menschen kon-
zipiert.16 Trotz dieses übergeordneten theologischen Rahmens ließ Jakob von
Vitry das bunte Spektrum seiner Exempel eher ungeordnet aufscheinen, orien-
tiert vor allem an einzelnen biblischen Aussagen und moralischen Belehrungen.
Dies wird auch im Prolog der Sermones feriales et communes deutlich, in dem
Jakob von Vitry betonte, dass er diese Sammlung als Ergänzung zu seinen Fei-
ertagspredigten (Sermones dominicales, festivales et volgares) konzipiert hatte -
13 S. Michael Menzel, „Historiarum armarium“. Geschichtsexempla in Predigerhand, in: His-
torisches Jahrbuch 126 (2006), S. 1-23, hier S. 8f. mit Beispielen für ständisch organisierte
Exempelschriften.
14 Peter Jones, Preaching laughter in the thirteenth Century: the exempla of Arnold of Liege (d.
c. 1308) and his Dominican milieu, in: Journal of Medieval History 41 (2015), S. 169-183.
15 Stephen L. Forte OP, A Cambridge Dominican Collector of Exempla in the Thirteenth
Century, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 28 (1958), S. 115-148.
16 Die Sermones sind insgesamt dreimal ediert worden, von Goswin Frenken, Joseph Greven
und auszugsweise von Carolyn Muessig (Sermo 1—14: feriales). Im Folgenden wird nach der
Ausgabe von Greven zitiert: Die Exempla aus den Sermones feriales et communes des Jakob
von Vitry, ed. Joseph Greven (Sammlung mittellateinischer Texte), Heidelberg 1914. Grund-
legend zu den Predigten Jakobs: Carolyn A. Muessig, The Sermones feriales of Jacques de
Vitry. A critical edition, Phil. Diss., Montreal 1993, hier: Bd. 1.
lässt sich hier in gewisser Weise auch das an einer zweigliedrigen Gesellschafts-
hierarchie ausgerichtete Bonum universale de aptbus des Thomas von Cantim-
pre (ca. 1200-1263/70) verorten.13 Schließlich sei auf zwei gegensätzliche Typen
verwiesen, die keinem übergeordneten Deutungsschema, sondern vielmehr
Aspekten der Nutzung und Anwendbarkeit folgen: Einerseits eine alphabeti-
sche Anordnung von Exempeln nach den Stichworten ihrer Hauptaussage, wie
sie etwa Arnold von Lüttich (gest. 1308) in seinem Alphabetum narrationum
vornahm,14 oder andererseits eine thematisch ungeordnete Zusammenstellung
oder Aneinanderreihung von Exempeln, wie sie beispielsweise in der Kompila-
tion eines anonymen Dominikaners aus Cambridge zu finden ist.15
Unabhängig von dem jeweiligen Ordnungsschema zeichnet alle Textsamm-
lungen eine konzeptionelle Spannung aus: So steht dem Anspruch, einzelne Bei-
spiele sinnhaft zu einem Erzählzusammenhang bzw. einer Gesamtstruktur an-
zuordnen (die dem mittelalterlichen Leser/Hörer, der den Text vornehmlich
auszugsweise konsumierte, im gesamten Umfang wahrscheinlich gar nicht ein-
sichtig war) die Herausforderung gegenüber, die einzelnen Beispiele so auszu-
wählen, dass ein lebensweltlicher Konnex rasch begreifbar und jede Geschichte
für sich verstehbar war.
Auf besonders eindrückliche Weise wurde diese Spannung von dem Prediger
Jakob von Vitry (1160/70-1240) bewältigt. Seine Sermones feriales et communes,
die sogenannten „Wochentags- und Alltagspredigten“, waren als Abfolge von
Modellpredigten über die Schöpfung Gottes und die Sünden des Menschen kon-
zipiert.16 Trotz dieses übergeordneten theologischen Rahmens ließ Jakob von
Vitry das bunte Spektrum seiner Exempel eher ungeordnet aufscheinen, orien-
tiert vor allem an einzelnen biblischen Aussagen und moralischen Belehrungen.
Dies wird auch im Prolog der Sermones feriales et communes deutlich, in dem
Jakob von Vitry betonte, dass er diese Sammlung als Ergänzung zu seinen Fei-
ertagspredigten (Sermones dominicales, festivales et volgares) konzipiert hatte -
13 S. Michael Menzel, „Historiarum armarium“. Geschichtsexempla in Predigerhand, in: His-
torisches Jahrbuch 126 (2006), S. 1-23, hier S. 8f. mit Beispielen für ständisch organisierte
Exempelschriften.
14 Peter Jones, Preaching laughter in the thirteenth Century: the exempla of Arnold of Liege (d.
c. 1308) and his Dominican milieu, in: Journal of Medieval History 41 (2015), S. 169-183.
15 Stephen L. Forte OP, A Cambridge Dominican Collector of Exempla in the Thirteenth
Century, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 28 (1958), S. 115-148.
16 Die Sermones sind insgesamt dreimal ediert worden, von Goswin Frenken, Joseph Greven
und auszugsweise von Carolyn Muessig (Sermo 1—14: feriales). Im Folgenden wird nach der
Ausgabe von Greven zitiert: Die Exempla aus den Sermones feriales et communes des Jakob
von Vitry, ed. Joseph Greven (Sammlung mittellateinischer Texte), Heidelberg 1914. Grund-
legend zu den Predigten Jakobs: Carolyn A. Muessig, The Sermones feriales of Jacques de
Vitry. A critical edition, Phil. Diss., Montreal 1993, hier: Bd. 1.