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Maul, Stefan M.; Maul, Stefan M. [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (Band 10, Teilband 1): Einleitung, Katalog und Textbearbeitungen — Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.57036#0019
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Bannlösung (nam-erim-bür-ru-da)

Welch hohen Stellenwert die Schriften zur Bannlösung unter
den altorientalischen Gelehrten des ersten vorchristlichen Jahr-
tausends besessen haben müssen, läßt sich daran ermessen, daß
in einem Kommentar zu dem babylonisch-assyrischen medizini-
schen Prognose- und Diagnosehandbuch37 ausdrücklich auf eine
Zeile aus der schriftlichen Fassung der Vorschriften zu der nam-
erim-bür-ru-da genannten Heilbehandlung verwiesen wird.38
Dennoch zeigt die hier präsentierte Sammlung von Schriften
zur Bannlösung, daß die Anweisungen zur Durchführung des
Verfahrens nicht etwa in einer einzigen verbindlichen Fassung
schriftlich fixiert worden waren. Zumindest in Assur waren
nebeneinander verschiedene Versionen in Gebrauch, die jeweils
ihre eigene Überlieferungsgeschichte besitzen und sich in ihrer
Ausführlichkeit und ihrer jeweiligen Fokussierung deutlich
unterscheiden.
2.2.1. Beschreibungen der nam-erim-bür-ru-da genannten
Heilbehandlung (Texte Nr. 3-15)
Die Vertreter der ersten Gruppe der wiedergefundenen Schriften
zur Bannlösung werden hier ‘Therapiebeschreibungen’ genannt.
Sechs verschiedene Texte dieser Art konnten ausfindig gemacht
werden. Wie der ‘Leitfaden’ können sie als Beschreibungen
des Bannlösungsverfahrens charakterisiert werden, in denen
Handlungsanweisungen festgehalten sind, die den Verlauf der
vorzunehmenden Therapie in wichtigen Schritten nachzeichnen.
Von dem ‘Leitfaden’ unterscheiden sie sich im wesentlichen
dadurch, daß die dicenda dort nicht nur mit ihrem Incipit
genannt, sondern in aller Regel ausformuliert sind. Daraus ergibt
sich ein Problem, das eng mit dem Wesen des Schriftträgers
Tontafel verknüpft ist. Da auf einer Tontafel der Raum begrenzt
ist und nur eine überschaubare Zahl von Textzeilen untergebracht
werden kann, muß eine solche Therapiebeschreibung entweder
auf mehrere Tafeln aufgeteilt oder aber so verkürzt werden,
daß sie dennoch auf einer einzigen Tontafel plaziert werden
kann. Beide Lösungsmöglichkeiten lassen sich in dem hier
vorgestellten Schrifttum nachweisen.
Es fällt auf. daß in den Therapiebeschreibungen, die man
auf nm einer Tafel überlieferte, häufig die mit den dicenda
notwendigerweise verknüpften agenda unerwähnt bleiben.39
DiesesVorgehenermöglichtdenTextumfangkleinzu halten. Auch
bestimmte Handlungsstränge, die in anderen Schriften detailliert
nachgezeichnet sind, finden in manchen knapp gehaltenen
Therapiebeschreibungen keine Beachtung, obgleich die Logik
des Verfahrens deren Ausführung erforderlich macht.40 Es kann
daher als sicher erachtet werden, daß Therapiebeschreibungen

37 Zu dem Prognose- und Diagnosehandbuch siehe J. Scurlock. Sourcebook.
13-271 sowie R. Labat. TDP und N. P. Heeßel. Babylonisch-assyrische
Diagnostik.
38 Siehe A. R. George. RA 85. 146-147 und 154 zu dem Kommentar 3 a.
39 Zu diesem aus dem Schrifttum der Heiler wohlbekannten Phänomen siehe
S. M. Maul. BaF 18. 33b. 39. Arun. 3. 53b. 119a. 121b. 170. Arun. 131.
204-210.401a.Inden Handlungsanweisungen der Therapieb eschreib ung 1
(hier Text Nr. 3) sind beispielsweise weder die Verehelichung des Patienten
mit dem personifizierten Bann noch die anschließende Scheidung
erwähnt, obgleich aus den zugehörigen dicenda eindeutig hervorgeht, daß
Verheiratung und Trennung in einem symbolischen Akt an dem Erkrankten
und einem den Bann darstellenden Figürchen vollzogen werden sollten.
40 Beispielsweise wird in der Therapiebeschreibung 2 (hier Text Nr. 4-10)
großer Wert darauf gelegt vorzuführen, auf welche Weise das von dem
Bann ausgehende Unheil erfaßt und beseitigt werden sollte. Dieser Aspekt,
der für das Gelingen eines Bannlösungsverfahrens von elementarer
Bedeutung ist. kommt in den kurzen Therapiebeschreibungen dennoch
nicht oder nur sehr knapp zur Sprache.

bestimmte Aspekte eines Heilverfahrens hervorheben und andere
vernachlässigen oder gar unerwähnt lassen, auch wenn diese bei
der Durchführung berücksichtigt wurden. Aus diesem Grund ist
es in manchen Fällen kaum möglich zu entscheiden, ob das im
Vergleich zu einer ausführlicheren Fassung konstatierte Fehlen
von Abschnitten lediglich redaktioneller Natur war. oder ob aus
der Abwesenheit entsprechender Passagen gefolgert werden
muß. daß die vorliegende Fassung einer Therapiebeschreibung
tatsächlich eine reduzierte Form der Behandlung empfahl.41 Die
Therapiebeschreibungen wurden, so wie der ‘Leitfaden’, stets
auf einkolumnigen Tafeln überliefert.
Im folgenden werden die spezifischen Eigenheiten der sechs
nachweisbaren Therapiebeschreibungen kurz charakterisiert:
Die Therapiebeschreibung 1 (hier Text Nr. 3) gehört zu dem
Tafelbestand aus dem sog. Haus des Beschwörungspriesters.
Sie enthält eine vollständige, wenngleich gegenüber dem
‘Leitfaden’ stark gekürzte Darstellung der nam-erim-bür-
ru-da genannten Heilbehandlung. Ihr ist eine ausführliche
Symptombeschreibung vorangestellt, die deutlich werden läßt,
aufgrund welcher Diagnose die beschriebene Heilbehandlung
durchgeführt werden sollte. Die Therapie sollte in einem
noch frühen Stadium der durch einen "Bann” ausgelösten
Krankheit erfolgen, um den Schweregrad ihres Verlaufs zu
mindern. Es scheint, als sei die beschriebene Heilbehandlung
deutlich weniger aufwendig angelegt, als die in dem ‘Leitfaden’
skizzierte. So fehlenbeispielsweise die litaneiartigen Bitten um
"Lösung”. Auch die in dem ‘Leitfaden’ ausführlich beschriebene
physiotherapeutische Behandlung des Patienten findet keinerlei
Erwähnung. Inder Therapiebeschreibung 1 steht der empfohlene
Umgang mit dem personifizierten Bann ganz im Mittelpunkt.
Die Behandlung des Kranken ist dort vollständig ausgeblendet,
auch wenn kein Zweifel daran bestehen kann, daß dieser sich
im Verlauf der Therapie zumindest verschiedenen Reinigungen
zu unterziehen hatte.42 Daher liegt mit Text Nr. 3 wohl eine
Therapiebeschreibung vor. die nicht darauf zielt, das Verfahren
der Bannlösung vollständig und in allen seinen Aspekten
darzustellen. Vielmehr scheint die Therapiebeschreibung 1
eine Art Aide-memoire zu sein, das dem Heiler lediglich die
wichtigsten Informationen liefert, welche für ‘Erschaffung’.
Anklage. Verurteilung und Beseitigung des personifizierten
Banns vonnöten sind.
Die Therapiebeschreibung 2 wurde aus sieben verschiede-
nen Textzeugen rekonstruiert (hier Text Nr. 4—10). Zwei davon

41 Ohne Zweifel gab es aufwendigere und weniger aufwendige
Behandlungsformen. Die in dem Leitfaden' geschilderte ideale'
Therapie verlangt einen so großen Aufwand an Zeit und Gütern, daß sie
in dieser Form wohl nur für die vornehmsten Mitglieder der Gesellschaft
durchgeführt wurde. Da sie eine ganze Reihe von Behandlungsschritten
aufweist, die sich mit geringen Abwandlungen wiederholen, kann sie ohne
wesentlichen Substanzverlust deutlich reduziert werden.
42 Grundsätzlich ist es denkbar, daß wir mit der vorliegenden
Therapiebeschreibung eine Art 'Rollenbuch' vor uns haben, das nur den
Part eines von mehreren Mitgliedern eines Teams von Heilem schildert.
Die Ausblendung der Behandlung des Patienten wäre dadurch gut erklärt.
Auch wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, daß Therapien wie die hier
untersuchte von mehreren Fachleuten gemeinsam durchgeführt wurden,
fehlen uns bislang jedoch belastbare Hinweise, die eine solche Annahme
bestätigen könnten. Im Fall der Surpu genannten Heilbehandlung ist
die arbeitsteilige Durchführung der Therapie jedenfalls bezeugt. In dem
zugehörigen Leitfaden' ist nämlich der leitende Heiler in der zweiten
Person Singular angesprochen, während von der Person, deren Aufgabe
darin bestand, den Patienten zu betreuen und ihn beispielsweise mit Mehl
abzureiben (luISIB = isippu). in der dritten Person die Rede ist (LKA 91;
siehe E. Reiner. Surpu. 11-12).
 
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