Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie
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denen sie einzelnes untersuchen kann. Bevor sie also an ihre eigentliche Arbeit geht,
muß sie sich vergegenwärtigen und klären, welche seelischen Phänomene sie meint,
mit welchen diese nicht verwechselt werden dürfen, mit welchen sie Ähnlichkeit
haben usw. Indem diese Vorarbeit der Vergegenwärtigung, des klärenden Abgrenzens
und der übersichtlichen Ordnung der | seelischen Phänomene selbständig betrieben
wird, entsteht die Phänomenologie. Daß diese Vorarbeit vorübergehend zum Selbst-
zweck gemacht wird, beruht darauf, daß sie schwierig und umfassend ist. Solange man
diese selbständige, planmäßige Untersuchung nicht in Angriff nahm, blieb die phä-
nomenologische Vorarbeit immer auf unter sich unzusammenhängende, einfallsmä-
ßige, ad hoc zurechtgemachte Erwägungen beschränkt, in denen zwar manche gute
Ansätze zu entdecken sind, bei denen aber die Forschung nicht stehen bleiben durfte.
Innerhalb der psychologischen Forschung hat E. Husserl805 den entscheidenden
Schritt zur planmäßigen Phänomenologie getan, nachdem ihm durch Brentano806
und seine Schule und Th. Eipps vorgearbeitet war.8°7 Für die Psychopathologie gibt es
eine Reihe von Ansätzen zu einer Phänomenologie',808 aber zu einer allgemeiner aner-
kannten Forschungsrichtung, die planmäßige Vorarbeit für die Aufgaben der eigent-
lichen Psychopathologie leistet, ist sie noch nicht geworden. Da hier wirklich viele
fruchtbare Aufgaben liegen, an denen jedermann mitarbeiten kann, erscheint uns eine
programmatische Darlegung des Ziels und der Methode angebracht.
Im täglichen Leben denkt niemand an isolierte seelische Phänomene seiner selbst
oder anderer. Wir sind innerlich immer auf das gerichtet, um dessenwillen wir erleben,
nicht auf unsere seelischen Vorgänge beim Erleben. Wir verstehen die anderen nicht
durch Betrachtung und Analyse des Seelenlebens, sondern indem wir mit ihnen im
Zusammenhang der Ereignisse, Schicksale und Handlungen leben. Und wenn wir
wirklich einmal die seelischen Erlebnisse selbst betrachten, so pflegen wir das dann
immer nur im Zusammenhang der von uns verstandenen Anlässe und der von uns ver-
standenen Folgen zu tun, oder wir pflegen in charakterologischen Kategorien Persön-
lichkeiten zu klassifizieren. Wir haben nie Anlaß, seelische Phänomene isoliert, eine
Wahrnehmung für sich, ein Gefühl zu betrachten und in seiner Erscheinung, Daseins-
weise, Gegebenheit zu beschreiben. Ebenso kann sich der Psychiater gegenüber einem
Kranken verhalten. Er kann miterleben, soweit solches eben immer, ohne daß ein
Nachdenken erforderlich ist, eintritt, er kann darin ein durchaus persönliches, unfor-
mulierbares und unmitteilbares Verstehen gewinnen, das aber auch für ihn selbst rei-
Das Buch Kandinskys, Kritische und klinische Betrachtungen im Gebiete der Sinnestäuschun-
gen, Berlin 1885, ist fast ganz phänomenologisch, abgesehen von den ohne Schaden für das Buch
zu vernachlässigenden theoretischen Bemerkungen. Oesterreich, Die Phänomenologie des Ich
in ihren Grundproblemen, Leipzig 1910, und Hacker, Systematische Traumbeobachtungen, Ar-
chiv f. Psych. 21,1,1911, treiben planmäßig Phänomenologie solcher Erscheinungen, die der Psy-
chopathologie besonders wichtig sind. In zwei Arbeiten (Zur Analyse der Trugwahrnehmungen,
s. S. 229, und: Die Trugwahrnehmungen, s. S. 297) habe ich mich in derselben Richtung bemüht.
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denen sie einzelnes untersuchen kann. Bevor sie also an ihre eigentliche Arbeit geht,
muß sie sich vergegenwärtigen und klären, welche seelischen Phänomene sie meint,
mit welchen diese nicht verwechselt werden dürfen, mit welchen sie Ähnlichkeit
haben usw. Indem diese Vorarbeit der Vergegenwärtigung, des klärenden Abgrenzens
und der übersichtlichen Ordnung der | seelischen Phänomene selbständig betrieben
wird, entsteht die Phänomenologie. Daß diese Vorarbeit vorübergehend zum Selbst-
zweck gemacht wird, beruht darauf, daß sie schwierig und umfassend ist. Solange man
diese selbständige, planmäßige Untersuchung nicht in Angriff nahm, blieb die phä-
nomenologische Vorarbeit immer auf unter sich unzusammenhängende, einfallsmä-
ßige, ad hoc zurechtgemachte Erwägungen beschränkt, in denen zwar manche gute
Ansätze zu entdecken sind, bei denen aber die Forschung nicht stehen bleiben durfte.
Innerhalb der psychologischen Forschung hat E. Husserl805 den entscheidenden
Schritt zur planmäßigen Phänomenologie getan, nachdem ihm durch Brentano806
und seine Schule und Th. Eipps vorgearbeitet war.8°7 Für die Psychopathologie gibt es
eine Reihe von Ansätzen zu einer Phänomenologie',808 aber zu einer allgemeiner aner-
kannten Forschungsrichtung, die planmäßige Vorarbeit für die Aufgaben der eigent-
lichen Psychopathologie leistet, ist sie noch nicht geworden. Da hier wirklich viele
fruchtbare Aufgaben liegen, an denen jedermann mitarbeiten kann, erscheint uns eine
programmatische Darlegung des Ziels und der Methode angebracht.
Im täglichen Leben denkt niemand an isolierte seelische Phänomene seiner selbst
oder anderer. Wir sind innerlich immer auf das gerichtet, um dessenwillen wir erleben,
nicht auf unsere seelischen Vorgänge beim Erleben. Wir verstehen die anderen nicht
durch Betrachtung und Analyse des Seelenlebens, sondern indem wir mit ihnen im
Zusammenhang der Ereignisse, Schicksale und Handlungen leben. Und wenn wir
wirklich einmal die seelischen Erlebnisse selbst betrachten, so pflegen wir das dann
immer nur im Zusammenhang der von uns verstandenen Anlässe und der von uns ver-
standenen Folgen zu tun, oder wir pflegen in charakterologischen Kategorien Persön-
lichkeiten zu klassifizieren. Wir haben nie Anlaß, seelische Phänomene isoliert, eine
Wahrnehmung für sich, ein Gefühl zu betrachten und in seiner Erscheinung, Daseins-
weise, Gegebenheit zu beschreiben. Ebenso kann sich der Psychiater gegenüber einem
Kranken verhalten. Er kann miterleben, soweit solches eben immer, ohne daß ein
Nachdenken erforderlich ist, eintritt, er kann darin ein durchaus persönliches, unfor-
mulierbares und unmitteilbares Verstehen gewinnen, das aber auch für ihn selbst rei-
Das Buch Kandinskys, Kritische und klinische Betrachtungen im Gebiete der Sinnestäuschun-
gen, Berlin 1885, ist fast ganz phänomenologisch, abgesehen von den ohne Schaden für das Buch
zu vernachlässigenden theoretischen Bemerkungen. Oesterreich, Die Phänomenologie des Ich
in ihren Grundproblemen, Leipzig 1910, und Hacker, Systematische Traumbeobachtungen, Ar-
chiv f. Psych. 21,1,1911, treiben planmäßig Phänomenologie solcher Erscheinungen, die der Psy-
chopathologie besonders wichtig sind. In zwei Arbeiten (Zur Analyse der Trugwahrnehmungen,
s. S. 229, und: Die Trugwahrnehmungen, s. S. 297) habe ich mich in derselben Richtung bemüht.
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