XII
Einleitung des Herausgebers
also, die es zugleich als unvordenklich erweisen. Jaspers nennt solche Vollzüge Voll-
züge eines »formalen Transzendierens«,34 in denen das Denken reflexiv (durch Selbst-
anwendung und Selbstaufhebung seiner Kategorien) dem Wesen des Einen nachgeht:
alles, was ist, zu integrieren und zu übersteigen - zu integrieren, weil das Eine das Sein
im Ganzen »ist«, zu übersteigen, weil das Eine keinen Teil des Ganzen bildet. Je nach
Kategoriengruppe35 lässt sich dieses Eine zwar verschieden bestimmen, als das Unbe-
grenzte, das Ewige, das Gute, Gott, die Natur, Gott oder die Natur. Entscheidend ist je-
doch, dass der wie immer gefasste Abschlussgedanke des transzendent Einen die Totali-
sierung von Weltbildern verunmöglicht und damit den Menschen unter die regulative
Idee stellt, Kohärenz in seine Selbstbeschreibungen zu bringen, ohne sich an eine Welt-
deutung exklusiv zu binden. Dieser regulativen Idee entspricht die Idee der Vernunft,
die weder einen eigenen Gehalt besitzt (der nur »immanent« sein könnte), noch sub-
jektzentriert begründet ist, sondern ein »transzendent bezogenes Menschsein«36 adres-
siert, das angesichts der Frage, wie man leben soll,37 seine Orientierung aus dem Denken
des Einen gewinnt. Im Sinne der Verbindung von Henologie und Lebensführung ist
nun für Jaspers die Metaphysik als solche - Existenzphilosophie.38 Sei es in der konkre-
ten Gestalt, ursprünglich: akademischer, später: literarischer oder universitärer Kom-
munikationsgemeinschaften, sei es in der didaktischen Form als Exerzitien transzen-
dierenden Denkens, die die großen Philosophen heute für uns sind. »Selbsterhellung
wird exemplarisch vollzogen von den großen Philosophen. An ihrer Selbsterhellung
entzündet sich die unsere.«39 Oder kürzer: »Die Existenz wird sich durch Philosophie
ihrer bewusst und dadurch vernünftig.«40
Die soweit skizzierten Konstellationen bleiben aus Jaspers' Sicht stabil bis ins
19. Jahrhundert, bis zu Kierkegaard und Nietzsche. Erst mit ihnen wird der Ausdruck
»Existenzphilosophie« Programm; die Zäsur hat Jaspers in einer Vorlesungsnotiz von
1931 festgehalten: »Existenzphilosophie ist der Name, den sich eine gegenwärtig wirk-
liche Philosophie gibt, als eine Philosophie, die sich als Weltanschauung im Leben
verwirklichen und dabei die Klarheit des Seinsbewusstseins gewinnen will. Sie ist die
Weise der Umsetzung vergangener Philos., statt alles von ihr als Lehrstücke zu wissen,
in gegenwärtige Philosophie. Warum dieser Name? // Die Philosophie durch Tahrtau-
34 Vgl. Philosophie III, 37-67.
35 Vgl. ebd., 42 die »drei Sphären«: Kategorien der Gegenständlichkeit überhaupt, der Wirklichkeit
und der Freiheit.
36 Philosophie 11, 325.
37 Tiö'av tö ^v: Politeia 353d; vgl. 352d.
38 V. Gerhard: »Alle Philosophie ist Existenzphilosophie«, in: Existenzphilosophie und Ethik, hg. von
H. Feger und M. Hackel, Berlin 2014,1-11.
39 Philosophie 11, 326.
40 »Kant, Vortrag bei der Heidelberger Kantfeier 1924«, S. 19.
Einleitung des Herausgebers
also, die es zugleich als unvordenklich erweisen. Jaspers nennt solche Vollzüge Voll-
züge eines »formalen Transzendierens«,34 in denen das Denken reflexiv (durch Selbst-
anwendung und Selbstaufhebung seiner Kategorien) dem Wesen des Einen nachgeht:
alles, was ist, zu integrieren und zu übersteigen - zu integrieren, weil das Eine das Sein
im Ganzen »ist«, zu übersteigen, weil das Eine keinen Teil des Ganzen bildet. Je nach
Kategoriengruppe35 lässt sich dieses Eine zwar verschieden bestimmen, als das Unbe-
grenzte, das Ewige, das Gute, Gott, die Natur, Gott oder die Natur. Entscheidend ist je-
doch, dass der wie immer gefasste Abschlussgedanke des transzendent Einen die Totali-
sierung von Weltbildern verunmöglicht und damit den Menschen unter die regulative
Idee stellt, Kohärenz in seine Selbstbeschreibungen zu bringen, ohne sich an eine Welt-
deutung exklusiv zu binden. Dieser regulativen Idee entspricht die Idee der Vernunft,
die weder einen eigenen Gehalt besitzt (der nur »immanent« sein könnte), noch sub-
jektzentriert begründet ist, sondern ein »transzendent bezogenes Menschsein«36 adres-
siert, das angesichts der Frage, wie man leben soll,37 seine Orientierung aus dem Denken
des Einen gewinnt. Im Sinne der Verbindung von Henologie und Lebensführung ist
nun für Jaspers die Metaphysik als solche - Existenzphilosophie.38 Sei es in der konkre-
ten Gestalt, ursprünglich: akademischer, später: literarischer oder universitärer Kom-
munikationsgemeinschaften, sei es in der didaktischen Form als Exerzitien transzen-
dierenden Denkens, die die großen Philosophen heute für uns sind. »Selbsterhellung
wird exemplarisch vollzogen von den großen Philosophen. An ihrer Selbsterhellung
entzündet sich die unsere.«39 Oder kürzer: »Die Existenz wird sich durch Philosophie
ihrer bewusst und dadurch vernünftig.«40
Die soweit skizzierten Konstellationen bleiben aus Jaspers' Sicht stabil bis ins
19. Jahrhundert, bis zu Kierkegaard und Nietzsche. Erst mit ihnen wird der Ausdruck
»Existenzphilosophie« Programm; die Zäsur hat Jaspers in einer Vorlesungsnotiz von
1931 festgehalten: »Existenzphilosophie ist der Name, den sich eine gegenwärtig wirk-
liche Philosophie gibt, als eine Philosophie, die sich als Weltanschauung im Leben
verwirklichen und dabei die Klarheit des Seinsbewusstseins gewinnen will. Sie ist die
Weise der Umsetzung vergangener Philos., statt alles von ihr als Lehrstücke zu wissen,
in gegenwärtige Philosophie. Warum dieser Name? // Die Philosophie durch Tahrtau-
34 Vgl. Philosophie III, 37-67.
35 Vgl. ebd., 42 die »drei Sphären«: Kategorien der Gegenständlichkeit überhaupt, der Wirklichkeit
und der Freiheit.
36 Philosophie 11, 325.
37 Tiö'av tö ^v: Politeia 353d; vgl. 352d.
38 V. Gerhard: »Alle Philosophie ist Existenzphilosophie«, in: Existenzphilosophie und Ethik, hg. von
H. Feger und M. Hackel, Berlin 2014,1-11.
39 Philosophie 11, 326.
40 »Kant, Vortrag bei der Heidelberger Kantfeier 1924«, S. 19.