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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0028
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Einleitung des Herausgebers

XXVII

lebendigen Prozess erst wieder zu revitalisieren war. Als Revitalisierung des Gehäuses
aber stellte der lebendige Prozess ein bloßes »Nachaußensetzen des Lebens«106 dar, das
sich nicht grundsätzlich von der intentionalen Selbsttranszendenz des Subjekts auf ein
Objekt unterschied - nur dass in der mundan zugeschnittenen Subjekt-Objekt-Bezie-
hung das neu anzueignende Gehäuse den Platz des Objekts eingenommen hatte. Der
lebendige Prozess musste der psychologischen Betrachtung deshalb als überschüssig
erscheinen. »Es ist gleichsam so, daß wir aus einer uns unbekannten Bahn einen Aus-
schnitt wahrnehmen. Dieser mag unserem philosophischen Bedürfnis Anlaß geben,
aus der Form und dem Gehalt der Bahn, die wir sehen können, gleichsam die Kurve
und die Gestalt der ganzen Bahn spekulativ zu berechnen. Der psychologischen Be-
trachtung liegt das nicht ob, sie beschreibt nur, was sichtbar ist. Ja sie entwickelt fast
unvermeidlich eine Skepsis, ob wir hier, an der äußersten Grenze unserer weltanschau-
lichen Betrachtung, imstande sind, aus unserem Dasein, das doch an unsere psycholo-
gischen Formen gebunden ist, gleichsam in eine nicht mehr psychologisch gegenständliche
Sphäre hinauszuspringen. Aber gleichzeitig entwickelt die psychologische Betrachtung
die Einsicht, daß diese Versuche des Springens gerade die lebendigen Vorgänge sind,
die neue Gehäuse schaffen, immer mit dem Bewußtsein, nunmehr das Absolute, End-
gültige zu erringen.«107
Kurve und Gestalt der ganzen Bahn zu berechnen, markiert den Anspruch der Phi-
losophie. Sie gibt den ohnehin nur zu Abgrenzungszwecken formulierten Gegensatz
zwischen Psychologie und (»prophetischer«) Philosophie auf. »Was ich damals mit der
Unterscheidung der Psychologie von prophetischer Philosophie wollte, ist der Sinn
meines Philosophierens bis heute geblieben. Zwar ist dieses Philosophieren keineswegs
nur betrachtend, wie es schon diese Psychologie der Weltanschauungen in der Tat
nicht war. Sie will in allem Darstellen im Grunde vergegenwärtigen, beschwören,
appellieren, also sich an die Freiheit wenden.«108 So gewendet gerät das weltanschau-
lich gefasste Leben in die Dynamik der Existenzerhellung, und nur als Appell an die Frei-
heit lässt sich nach Jaspers auch verständlich machen, was es heißt, dass der lebendige
Prozess letztlich auf ein Absolutes zielt. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir in der
Welt sind, bedeutet nicht nur Fraglosigkeit, sondern enthält ein Moment unbedingter
Gewissheit - d.h. einen Glauben,109 der die Instabilität der Gehäuse im positiven Sinne
als Zeiger begreift auf etwas, das »nicht mehr Welt ist«: »Im Worte Weltanschauung
wird am Ende noch die innere Haltung zu dem getroffen, was nicht mehr Welt ist, und
was, theoretisch gedacht, nur vielleicht ist und vielleicht auch nicht ist, geglaubt aber

106 Psychologie der Weltanschauungen, 281 (»Nur in diesem Nachaußensetzen ist Leben erkennbar, der
Prozeß dieses Nachaußensetzens ist das Leben selbst.«)

107 Ebd., 282; Hervorhebung nicht im Original.

108 Psychologie der Weltanschauungen, X-XI.

109 Vgl. Philosophie 1, 246: »Der Kern der Weltanschauung ist Glaube.«
 
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