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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0039
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XXXVIII

Einleitung des Herausgebers

von Transzendenz hinaus, den varieties of religious experience eine unnötig restrik-
tive Beschreibung auferlegt.146 Einschlägig ist dagegen die identitätsfixierende Form
der Offenbarung: Man kann sich ihr, wenn überhaupt, bloß auf Kosten des Selbstver-
lusts entziehen. In gewisser Weise gilt dies freilich von jeder Orientierung an einem
Unbedingten, nur dass die Identität des Selbst im liebenden Kampf der Existenzen
erst wechselseitig erschlossen wird, während sie dem Offenbarungsgläubigen immer
schon Voraussetzung ist. Für ihn verbleibt deshalb noch die existentielle Kommuni-
kation unter dem strategischen Vorbehalt, die eigene Wahrheit, wenn nicht durchzu-
setzen, so doch als sakrosankt zu behaupten: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.«
Die Diskursverweigerung infiltriert auch die »unteren Stufen« der Kommunikation von
Dasein, Bewusstsein und Geist - und wird hier erst eigentlich fatal. Dem Offenbarungs-
glauben entgeht das humanisierende Potential, das in symmetrischen Kommunikati-
onsformen als solchen liegt; philosophischer Glaube dagegen ist der Effort, dieses Po-
tential gegen die Dynamik des Eigensinns auszuschöpfen: Im pragmatischen Streit der
Interessen, im Pro und Contra von Argumenten, in geistigen Auseinandersetzungen
nicht sowohl das Trennende, als vielmehr den Konsens des Miteinanderredens her-
auszustreichen, der uns einen Begriff davon gibt, was es heißen könnte, auf mensch-
liche Weise vernünftig zu sein.
Gemessen an den Groninger und Frankfurter Vorträgen sind die hier beigegebenen
kleineren Texte Paralipomena. Sie berühren verschiedene Dinge, einschlägig vor allem
die Auseinandersetzung mit Sartre; kein Meisterstück, auch von Sartres Seite nicht.
Jaspers hat es bei dem Dekret belassen, das er bereits 1937 und damals noch im Kon-
junktiv formulierte: »Der Existentialismus wäre der Tod der Existenzphilosophie.«147

146 Der interessanteste Vermittlungsvorschlag (einem »religionslosen Christentum« im Sinne Bon-
hoeffers vergleichbar), stammt von Johannes Hennig (»Das neue Denken und das neue Glauben.
Eine Studie zu Karl Jaspers' »Vernunft und Existenz««, Zeitschrift für Theologie und Kirche Neue Folge
17 (1936) 30-52). Für Hennig ist die Glaubenserfahrung, im Gebet oder im Bekenntnis, eine ma-
teriale: Wir beten, wenn wir beten, weder in Chiffren noch zu Chiffren. Zur Glaubenserfahrung
gehört aber auch die Desillusion, dass das Gebet hohl wird oder das Bekenntnis zur Formel ge-
rinnt (50-51). Diese Desillusion ist konstitutiv - nicht, weil es sich am Ende doch nur um Chiff-
ren, sondern weil es sich von Beginn an nicht um Chiffren handelt: Der Gläubige resigniert (oder
kapituliert) vor der Leibhaftigkeit Gottes, für Hennig eine Erfahrung des Scheiterns, an die der
Jaspers'sche Ansatz, weil er die Leibhaftigkeit - das »Direkte« - leugnet, grundsätzlich nicht he-
ranreicht. Die Verführung des Glaubens, Hennig spricht von »Schuld«, besteht umgekehrt da-
rin, das eigene Scheitern nicht ernst zu nehmen und sich stattdessen bei Vorstellungen der Tauf-
gnade zu beruhigen. Darin liegt wiederum die Stärke von Jaspers: Nur existenzphilosophisch lasse
sich im Sinne einer »Eschatologie des Modernen« die Verzweiflung beschreiben, die gerade in der
christlichen Glaubenserfahrung dadurch aufbricht, dass »nicht Gott vielleicht - aber Christus tot
[ist] - im Jahre 33 oder 1789 gestorben« (52).

147 S. 165. - Vgl. auch Stellenkommentar Nr. 316 und: A. Hügli, M. Hackel (Hg.): Karl Jaspers und Jean-
Paul Sartre im Dialog. Ihre Sicht auf Existenz, Freiheit und Verantwortung, Frankfurt a.M. 2015.
 
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