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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0043
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XLII

Einleitung des Herausgebers

derherstellung bedarf. - In J.s Philosophie lebt als echter Beweggrund die nordische
Einsamkeit und der nordische Zug ins endlos Weite und unermeßlich Tiefe; es ist ihr
aber - und das mutet tragisch an angesichts der wahren Meisterschaft ihres Aufbaus
- versagt, das zu fassen, was die deutsche Gegenwart zuvörderst bewegt, das Volk als
ein ursprünglich Wesenhaftes.«157 Natürlich ist Beckers eingenordeter Jaspers nicht
Jaspers, sowenig wie der Dunkelmann bei Adorno oder der Spießbürger bei Horkhei-
mer; aber Becker benennt doch unfreiwillig den Aspekt, unter dem sich Jaspers auch
bei schlechtesten Willen nicht nazifizieren ließ: Vom Individualismus der Existenz
führte kein Weg zum Völkischen.
Ein zweiter Strang der Rezeption läuft über den Begriff der Vernunft. Als »Überwin-
dung des Irrationalismus« verbucht Leopold Silberstein Vernunft und Existenz in der Pra-
ger Presse. Die Gefahr drohe der Jaspers'schen Philosophie von außen, »insbesondere
[...] durch Verwechslung mit der unklaren und gewaltsamen, das Sein wie das Leben
durch ihre negative Ontologie auf den Kopf stellenden »Existenzialphilosophie« Hei-
deggers.« Entschiedener als früher und in Abgrenzung zu Heideggers »Philosophie der
Gottlosigkeit und Menschenungläubigkeit« betone Jaspers in Vernunft und Existenz des-
halb »die Sinngebung der Existenz durch die Transzendenz« als »Bedingung des Seins
und des Eigentlich-Seins zugleich.« »Die größte Tat des Buches« aber sei »die Inthro-
nisation der Vernunft als des alle Seinsweisen einigenden Bandes« mit Hilfe des neu-
geschaffenen Konzepts des Umgreifenden: »Nicht nur Dasein, Bewußtsein überhaupt
und Geist, auch Existenz kann der Vernunft nicht entraten. In Anlehnung an eine be-
rühmte kantische Formulierung erklärt Jaspers, daß Existenz nur durch Vernunft sich
hell wird, Vernunft nur durch Existenz Gehalt hat«: »Dieses durch seine gedankliche
Geschlossenheit überwältigende Bekenntnis zum Menschsein erinnert in seinem Rin-
gen um erlebte Transzendenz an Masaryk, in seinem Glauben an die Macht der Ver-
nunft innerhalb einer Wirklichkeit, die mehr als Vernunft ist, an Benes.«158

157 O. Becker: »Philosophie und Weltanschauung«, Rasse 2 (1935) 493-498, 496f. Zurückhaltend mu-
tet im Vergleich dazu die Besprechung im Völkischen Beobachter an (H. Büttner, »Die philosophi-
sche Lage des Abendlandes«, Münchener Ausgabe, 5. Januar 1936) - auch sie konzentriert sich, in
ausführlichen Zitaten, auf Nietzsche und Kierkegaard und meldet nur in einem Punkt Bedenken
an: »Persönlich glaube ich allerdings, daß uns doch Nietzsche wenigstens auf den richtigen Weg
geführt hat, wenn er uns mit unwiderstehlicher Wucht den Blick auf das Leben als die Grundlage
alles Denkens, die Wurzel und den Nährgrund der Ethik lenkte.« Doch sei »wohl richtig, wenn
Jaspers meint, das Gemeinsame der Wirkung Nietzsche und Kierkegaards bestünde darin, erst zu
bezaubern und dann zu enttäuschen«. Büttner hatte 1933 bei Pfänder und Hönigswald über Nietz-
sche promoviert (Der Weg zur Überwindung des ethischen Idealismus bei Nietzsche, München 1933);
zu Becker vgl. W. Hogrebe: »Die Selbstverstrickung des Philosophen Oskar Becker«, in: Philosophie
im Nationalsozialismus, hg. von H. J. Sandkühler, Hamburg 2009,157-190.

158 L. S.: »Überwindung des Irrationalismus«, Prager Presse, 5. April 1936; zur Biographie Silbersteins,
der am 23. Juli 1941 im Konzentrationslager Tartu ermordet wurde, vgl. K. Herrmann: Leopold Sil-
berstein. Slawist und Philosoph, Berlin 2015.
 
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