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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0069
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8

Vernunft und Existenz

ein ferner Donner, der Gewitter ankündigt, die sich entladen können, aber es noch
nicht tun.
So kann die große Geschichte der abendländischen Philosophie von Parmenides
und Heraklit bis zu Hegel wie eine durchgehende und abgeschlossene Einheit erschei-
nen. Ihre großen Gestalten werden noch heute in der Überlieferung bewahrt und ge-
gen den Zerfall des philosophischen Denkens als das wahre Heil der Philosophie wie-
12 dererweckt. | Seit einemjahrhundert werden im Wechsel die Einzelnen zum Gegenstand
besonderen Studiums und der Wiederherstellung ihrer Lehre. Man kennt die Gesamt-
heit der vergangenen Lehren, im Sinne der Lehrstücke, vielleicht besser als irgendei-
ner der früheren großen Philosophen sie kannte. Aber das Bewußtsein der Verwand-
lung in bloßes Wissen um Lehren und um Geschichte, der Loslösung vom Leben selbst
und von der tatsächlich geglaubten Wahrheit hat diese Überlieferung, so großartig sie
ist und soviel Befriedigung sie geschaffen hat und heute schafft, doch auch im letzten
Sinn fragwürdig gemacht, wenn nämlich mit ihr die Wahrheit des Philosophierens
schon ergriffen oder gar in ihr beschlossen sein soll.
Denn in der Wirklichkeit des abendländischen Menschen ist in aller Stille etwas
Ungeheures geschehen: ein Zerfall aller Autoritäten, die radikale Enttäuschung eines
übermütigen Vertrauens zur Vernunft, eine Auflösung der Bindungen, die alles,
schlechthin alles möglich zu machen scheint. Das Operieren mit den alten Worten
kann wie ein bloßer Schleier erscheinen, der die zum Ausbruch bereiten Kräfte des
Chaos unserem ängstlichen Auge verdeckt, ohne andere Macht als die einer noch eine
Zeitlang fortzusetzenden Täuschung. Das leidenschaftliche Beschwören dieser Worte
und Lehren, wahrhaftig und gut gemeint, scheint ohne eigentliche Wirkung, ein ohn-
mächtiger Ruf zu bleiben. Philosophieren, das echt ist, müßte der neuen Wirklichkeit
gewachsen sein und selbst in ihr stehen.16
Die gegenwärtige philosophische Situation wird durch die Tatsache bestimmt, daß zwei
Philosophen, Kierkegaard und Nietzsche,17 die, zu ihren Lebzeiten nicht gerechnet, dann
noch lange in der Philosophiegeschichte ohne Geltung blieben, in ihrer Bedeutung
13 ständig wachsen. Während alle Philosophen nach Hegel ihnen gegenüber | immer
mehr zurücktreten, stehen sie als die eigentlich großen Denker ihres Zeitalters heute
im Grunde schon unbezweifelt da: ihre Wirkung wie die Gegnerschaft gegen sie bewei-
sen es. Warum sind die beiden die nicht mehr ignorierbaren Philosophen unserer Zeit?
In der Situation sowohl des Philosophierens wie des wirklichen Lebens des Men-
schen treten Kierkegaard und Nietzsche auf wie der Ausdruck des Verhängnisses, das
als solches damals noch niemand - außer in augenblicklichen, schnell wieder verges-
senen Ahnungen - bemerkt, das aber in ihnen schon sich versteht.
Die Frage, was dieses Verhängnis eigentlich sei, ist heute noch offen; sie wird durch
einen Vergleich der beiden Denker zwar nicht beantwortet, aber deutlicher und drin-
 
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