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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0071
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IO

Vernunft und Existenz

bild, sondern eine neue denkende Gesamthaltung des Menschen im Medium unendli-
cher Reflexion, die sich bewußt ist, als Reflexion keinen Boden gewinnen zu können.
Kein Einzelnes kennzeichnet ihr Wesen, keine bestimmte Lehre oder Forderung ist als
einzelne und feststehende aus ihnen zu entnehmen.
Aus dem Bewußtsein ihrer Wahrheit ist beiden die Wahrheit in der naiveren Ge-
15 staltung20 wissenschaftlichen | Wissens verdächtig. Sie bezweifeln nicht die methodi-
sche Richtigkeit wissenschaftlicher Einsicht. Aber Kierkegaard wundert sich angesichts
der gelehrten Professoren: sie leben zumeist hin und sterben in der Einbildung, daß es
so fortgehe und, wenn es ihnen vergönnt würde, länger zu leben, daß sie in einem fort-
gesetzten direkten Steigen immer mehr und mehr begreifen würden; sie erleben nicht
die Reife, für die ein kritischer Punkt kommt, wo es umschlägt, wo es gilt, von nun an
in steigendem Begreifen mehr und mehr zu begreifen, daß da etwas ist, das man nicht
begreifen kann? 21 Er meint, es sei die furchtbarste Weise zu leben: die ganze Welt zu
bezaubern durch seine Entdeckungen und seine Geistreichheit, die ganze Natur zu er-
klären und sich selbst nicht zu verstehen." 22 Nietzsche ist unerschöpflich in der zerset-
zenden Analyse der Typen der Gelehrten, die keinen eigentlichen Sinn ihres Tuns ha-
ben, nicht sie selbst sein können und doch mit ihrem am Ende nichtigen Wissen das
Sein selbst zu fassen meinen.
Die Infragestellung jeder sich in sich schließenden Vernünftigkeit als Mitteilbar-
keit der Wahrheit im Ganzen macht beide zu radikalen Gegnern des »Systems«, d.h.
der Gestalt der Philosophie, die sie in den Jahrtausenden hatte, und die im deutschen
Idealismus zu ihrem letzten Glanz führte. Das System ist ihnen Ablenkung von der
Wirklichkeit, darum Lüge und Täuschung. Kierkegaard begreift, daß das Dasein ein Sys-
tem für Gott, aber nicht für einen existierenden Geist sein kann; System und Abge-
schlossensein entsprechen einander, aber Dasein ist gerade das Entgegengesetzte.™ 23
Der Philosoph des Systems ist als Mensch wie einer, der ein Schloß baut, aber im Schup-
pen nebenan wohnt: dieses phantastische Wesen lebt nicht selbst in dem, was es denkt
- aber eines Mannes Gedanken müssen der Bau sein, in dem er wohnt, sonst ist es ver-
16 kehrt.iv 24 Die Grundfrage der Philosophie, was sie selbst und was Wis|senschaft sei, wird
neu und unerbittlich gestellt. Nietzsche will besser zweifeln als Descartesv,25 sieht in He-

i Tag. II, 87, (Tagebücher, [ü]bersetzt von Th. Haecker, 2 Bde[.], Innsbruck 1923).

ii Tag. 1, 303.

♦ iii VI, 202, (Kierkegaard, Gesammelte Werke, 12 Bde[.],Jena, Diederichs. Ich zitiere nach der ersten
Auflage).

♦ iv B. d. R., i28ff., (Kierkegaard, Buch des Richters. Aus seinen Tagebüchern ausgewählt von H. Gott-
sched, Jena 1905).

v 14, 5 (Nietzsches Werke, Großoktav-Ausgabe in 16 Bänden).
 
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