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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0073
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Vernunft und Existenz

Man kann fragen, ob in solchem Denken denn überhaupt noch etwas gesagt wird.
In der Tat sind Kierkegaard und Nietzsche sich bewußt, daß das Verständnis ihres Den-
kens nicht schon dem Menschen als Menschen, der nur denkt, zugänglich ist. Es
kommt darauf an, wer es ist, der versteht.
Sie wenden sich an den Einzelnen, der von sich aus mitbringen und hervorbringen
muß, was sie nur indirekt sagen können. Für Kierkegaard gilt das von ihm zitierte Wort
Lichtenbergs: Solche Werke sind Spiegel: wenn ein Affe hineinguckt, kann kein Apos-
tel heraussehen? 37 Ihn zu verstehen, nennt Nietzsche eine Auszeichnung, die man
sich verdient haben muß." 38 Er erklärt es für unmöglich, dort Wahrheit zu lehren, wo
die Denkweise niedrig ist."1 39 Beide suchen die zu ihnen gehörenden Leser.
i8 | Die Weise des so gekennzeichneten Denkens ist begründet in der Existenz Kierke-
gaards und Nietzsches, sofern diese in einer ihnen eigentümlichen Weise zu dem ge-
genwärtigen Zeitalter gehört. Daß ihnen kein einzelner Gedanke, kein System, keine
Forderung für sich entscheidend ist, folgt daraus, daß beide Denker nicht mehr ein
Zeitalter auf seinen Gipfel bringen, daß sie keine Welt erbauen und nicht eine verge-
hende Welt noch einmal im Bilde schaffen. Sie fühlen sich nicht als positiver Ausdruck
ihres Zeitalters; sie drücken vielmehr negativ durch ihr Sein aus, was es ist: das von ih-
nen schlechthin verworfene, im Verfall durchschaute Zeitalter. Ihre Aufgabe scheint
zu sein, die Erfahrung dieses Zeitalters im eigenen Wesen zu Ende zu vollziehen, seine
Wirklichkeit selbst vollkommen zu sein, um sie zu überwinden. Es gelingt ihnen zu-
nächst ungewollt, dann bewußt dadurch, daß sie nicht Repräsentanten ihrer Zeit, son-
dern die Anstoß und Ärgernis erweckende Ausnahme sind.40 Das ist näher zu sehen.
Beide werden ihrer Aufgabe schon am Ende ihrer Jugend, wenn auch noch unbe-
stimmt, bewußt. Eine den ganzen Menschen ergreifende, stille, oft nicht mehr be-
wußte, dann durch sie selbst wieder erzwungene Entscheidung treibt sie in die radikalste
Einsamkeit. Ohne Amt, ohne Ehe, ohne tätige Wirksamkeit im Dasein scheinen sie
doch als große Realisten mit der eigentlichen, in der Tiefe geschehenden Wirklichkeit
Fühlung zu haben.
Diese Wirklichkeit treffen sie in ihrer Grunderfahrung des Zeitalters als des Ruins:
im Rückblick auf die Jahrtausende bis an den Anfang des Griechentums spüren sie das
Ende dieser ganzen Geschichte; am Wendepunkt machen sie aufmerksam auf den Au-
genblick, ohne Sinn und Weg der Geschichte im Ganzen überblicken zu wollen.

i IV, 8.

ii 15,54.

iii 14, 60.
 
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