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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0075
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14

Vernunft und Existenz

Das Zeitalter der Reflexion ist seit Fichte charakterisiert worden als das Räsonieren
ohne Bindung, als das Zersetzen aller Autorität, als das Preisgeben der Gehalte, die dem
Denken Maß, Ziel und Sinn geben, so daß es nunmehr ohne Hemmung als das belie-
bige Spiel des Intellekts die Welt mit Lärm und Staub erfüllt.
Kierkegaard und Nietzsche aber gehen nicht gegen die Reflexion an, um sie zu ver-
nichten, sondern um sie zu überwinden dadurch, daß sie sie selbst grenzenlos vollzie-
hen und beherrschen. Der Mensch kann nicht, ohne sich selbst zu verlieren, zurück-
gehen in eine reflexionslose Unmittelbarkeit, sondern er kann den Weg nur zu Ende
gehen, um, statt der Reflexion zu verfallen, vielmehr in ihrem Medium auf den Grund
seiner selbst zu kommen.
Ihre »unendliche Reflexion« hat daher einen zweifachen Charakter. Sie kann eben-
sowohl der völlige Ruin werden, wie sie Bedingung echter Existenz ist. Beide sprechen
es aus, Kierkegaard am deutlichsten:
2i | Die Reflexion ist nicht in sich zu erschöpfen, nicht durch sich selbst aufzuhalten.
Sie ist treulos, denn sie verhindert jede Entscheidung; sie ist nie fertig und kann am
Ende »dialektisches Geschwätz«1 44 werden: so heißt sie ihm auch das Gift der Refle-
xion.45 Daß sie aber möglich, ja notwendig ist, liegt selbst in der grenzenlosen Vieldeu-
tigkeit allen Daseins und Tuns für uns begründet: alles kann der Reflexion immer auch
noch etwas Anderes bedeuten. Diese Situation vermag einerseits die Sophistik des Da-
seins und vermag der existenzlose Ästhetiker, der alles nur immer auf neue Weise in-
teressant genießen will,46 zu nutzen: wenn er einen noch so entscheidenden Schritt
tut, so behält er sich doch die Möglichkeit vor, die Sache so zu deuten, daß mit einem
Schlage alles verändert ist." 47 Diese Situation ist aber andrerseits wahrhaft zu ergreifen
♦ mit dem Wissen darum, daß wir, sofern wir redlich sind, in dem »Meere von Reflek-
♦ tion« leben, »wo keiner einem einfach zurufen kann, wo alle Seemarken dialektisch
sind.«"1 48
Ohne die unendliche Reflexion würden wir in die Ruhe eines Festen, das als Be-
stand in der Welt absolut wäre, geraten, d.h. abergläubisch werden. Eine Atmosphäre
der Unfreiheit entsteht mit solcher Fixierung. Die unendliche Reflexion ist daher ge-
rade durch ihre grenzenlos bewegende Dialektik Bedingung der Freiheit. Sie sprengt je-
des Gefängnis des Endlichen. Erst in ihrem Medium kann etwa aus der unmittelbaren
Leidenschaft, die als fraglose noch unfrei ist, die unendliche Leidenschaft werden, in
der die unmittelbare durch die Frage hindurch festgehalten und eigentlich treu wird
als frei ergriffene.

♦ i [IV],244.
ii 11, 10.
♦ iii Zitiert nach: Emanuel Hirsch, Kierkegaardstudien. Gütersloh 1933, 2 Bde[.], 1, 298.
 
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