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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0080
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Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation

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Ausnahmen sind sie in jedem Sinne. Sie blieben leiblich zurück hinter ihrem We-
sen: ihre Physiognomie verwirrt durch verhältnismäßige Unauffälligkeit, prägt sich
nicht ein als Typus menschlicher Größe.67 Es ist, als ob beiden in der bloßen Vitalität
etwas mangele. Es ist, als ob sie ewig | jung als in die Welt verirrte wirklichkeitslose,
weil weltlose Geister seien.
Menschen der Umgebung fühlten sich in ihrer Gegenwart auf eine rätselhafte
Weise angezogen, für einen Augenblick wie in ein höheres Dasein gehoben, aber nie-
mand hat sie eigentlich geliebt.
In ihrem Leben und Verhalten begegnen wunderliche, fremde Züge. Man hat sie
leichthin geisteskrank genannt. Ohne daß die einzige Höhe ihres Denkens und der Adel
ihres Wesens dadurch beeinträchtigt würde, vielmehr so, daß er erst ganz zutage tritt,
sind sie in der Tat Gegenstand einer psychiatrischen Analyse, bei der eine typische Di-
agnose und Rubrizierung überall mißlingt.68
Sie sind unter keinen früheren Typus (Dichter, Philosoph, Prophet, Heiliger, Ge-
nie) zu bringen; mit ihnen ist eine neue Gestalt menschlicher Wirklichkeit in die Ge-
schichte getreten: sie sind ein gleichsam vertretendes Schicksal, Opfer, deren Weg aus
der Welt hinaus zu Erfahrungen für andere führt. Sie sind mit dem restlosen Einsatz
ihres ganzen Wesens wie eine moderne Gestalt der Märtyrer, die zu sein sie jedoch ge-
rade negieren. Durch ihr Sein als Ausnahme erfüllen sie ihre Aufgabe.
Beide sind unersetzlich als Scheiternde, die es gewagt haben, an denen wir uns ori-
entieren, durch die wir Kunde erhalten von etwas, von dem wir ohne solches Opfer
nie vernommen hätten, von etwas, das uns wesentlich erscheint, ohne es bis heute zu-
reichend fassen zu können. Als ob die Wahrheit selbst spräche, die eine in der Tiefe un-
seres Seinsbewußtseins angreifende Unruhe stiftet.
Auch in dem äußeren Gang ihres Lebens sind erstaunliche Ähnlichkeiten. Beide ka-
men schon in den vierziger Jahren ihres Lebens zum plötzlichen Ende. Kurz vorher -
ohne Wissen ihres Endes - schritten sie zum öffentlichen, leidenschaftlichen Angriff,
Kierkegaard auf die Christen|heit in der Gestalt der Kirche und der allgemeinen Un-
redlichkeit, Nietzsche auf das Christentum selbst.69
Beide wurden im ersten Auftreten literarisch berühmt,70 in der Folge aber blieben
ihre neuen Bücher ohne Absatz; sie mußten, was sie schrieben, auf eigene Kosten dru-
cken lassen.
Auch das Schicksal, einen Widerhall ohne jedes Verständnis zu finden, war ihnen ge-
meinsam. Sie waren der Zeit, aus der ihnen nichts entgegenkam, eine bloße Sensation.
Die Verführung durch Schönheit und Glanz der Sprache, durch die dichterischen und
literarischen Qualitäten, durch das Aggressive ihrer Inhalte versperrte den Weg zu ih-
ren eigentlichen Antrieben. Beide wurden nach ihrem Ende bald vergöttert von denen,
mit denen sie am wenigsten zu tun haben. Das Zeitalter, das sie selbst überwinden woll-
ten, konnte sich in ihren beliebig herausgegriffenen Gedanken gleichsam austoben.

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