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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0101
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Vernunft und Existenz

60 | Die großen Pole unseres Seins, in allen Weisen des Umgreifenden sich begegnend,
sind also Vernunft wad Existenz. Sie sind untrennbar. Jeder geht verloren, wenn der an-
dere verlorengeht. Vernunft darf sich nicht an Existenz verlieren zugunsten eines sich
absperrenden Trotzes, der sich gegen Offenbarkeit verzweifelt sträubt. Existenz darf
sich nicht an Vernunft verlieren zugunsten einer Durchsichtigkeit, welche sich als sol-
che mit der substantiellen Wirklichkeit verwechselt.
Existenz wird nur durch Vernunft sich hell; Vernunft hat nur durch Existenz Gehalt.
In der Vernunft ist der Drang aus der Unbewegtheit und beliebigen Endlosigkeit
des Richtigen in die lebendige Bindung durch die Ganzheit der Ideen des Geistes und
aus diesem zur Existenz als dem Träger, der dem Geist erst eigentlich Sein gibt.
Vernunft ist auf Anderes angewiesen: auf den Gehalt der sie tragenden Existenz,
die in ihr sich klärt und ihr die entscheidenden Antriebe gibt. Vernunft ohne Gehalt
wäre bloßer Verstand und als Vernunft bodenlos. Wie die Begriffe des Verstandes ohne
Anschauung leer sind,144 so ist Vernunft ohne Existenz hohl. Vernunft ist nicht als
bloße Vernunft, sondern als Tun der möglichen Existenz.
♦ Aber auch Existenz ist auf Anderes angewiesen: Auf die Transzendenz, durch die
sie, die sich nicht selbst geschaffen hat, erst der unabhängige Ursprung in der Welt ist;
ohne Transzendenz ist Existenz unfruchtbarer und liebeloser dämonischer Trotz.145
Existenz, angewiesen auf die Vernunft, durch deren Helle sie erst Unruhe und den An-
spruch der Transzendenz erfährt, kommt unter dem Stachel des Fragens der Vernunft
erst in ihre eigentliche Bewegung. Ohne Vernunft ist Existenz untätig, schlafend, wie
nicht da.
61 Vernunft und Existenz sind also nicht zwei sich gegen[überstehende Mächte, die
untereinander um die Entscheidung kämpfen. Jede ist erst durch die andere. Sie trei-
ben sich gegenseitig hervor, finden aneinander Klarheit und Wirklichkeit.
Obgleich sie nie ein endgültiges Ganzes werden, ist jede echte Verwirklichung nur
aus ihnen ein Ganzes.
Existenzlose Vernunft gerät in das bei allem möglichen Reichtum zuletzt doch belie-
bige Denken einer bloß noch intellektuellen Bewegung des Bewußtseins überhaupt
oder der Dialektik des Geistes. Indem sie abgleitet in das intellektuell Allgemeine ohne
bindende Wurzel ihrer Geschichtlichkeit, hört sie auf, Vernunft zu sein.
Vernunftlose Existenz, die sich auf Gefühl, Erlebnis, fraglose Triebhaftigkeit, Instinkt
und Willkür stützt, gerät in blinde Gewaltsamkeit, aber damit in das empirisch Allge-
meine dieser Daseinsmächte. Ohne Geschichtlichkeit, in der bloßen Besonderheit zu-
fälligen Daseins mit seiner transzendenzlosen Selbstbehauptung, hört sie auf[,] Exis-
tenz zu sein.
Beide verlieren ohne einander die echte Kontinuität des Seins, damit die Verläß-
lichkeit, welche der echten Vernunft und Existenz ohne Berechenbarkeit eigen sind.
Sie unterscheiden sich am Ende nur durch die Form kommunikationsloser Gewalt-
 
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