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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0146
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Die Möglichkeiten gegenwärtigen Philosophierens

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Das große philosophische Anliegen ist, wie es von jeher war, wieder die Vernunft ge-
worden. Nach der Infragestellung durch Kierkegaard und Nietzsche ist Vernunft uns
nicht mehr selbstverständlich. Die tiefste Ergründung der Vernunft in dem Philoso-
phieren des deutschen Idealismus ist für uns nicht mehr überzeugend, doch die uner-
schöpfte Quelle einer Vernünftigkeit, ohne die wir die Ebene des echten Philosophie-
rens nicht mehr erreichen würden. 1 203
Fragen wir im Rückblick auf das faktische Philosophieren der Jahrtausende:
Kann Philosophie sich auf Vernunft gründen? so muß die Antwort lauten: Nein, denn

i Das Philosophieren Kants ist getragen von dem Vertrauen zur Vernunft. Daß diese sich nicht in
sich selber zerstören kann, daß vielmehr der Widerspruch im Denken wie im Sein nicht bestehen
kann, ist ihm Voraussetzung und Ziel des Denkens. Sein langes Bemühen um die im Denken der
Welt auftretenden Antinomien, diese scheinbar unlösbaren Widersprüche, führt ihn zur Einsicht
in den Vernunftursprung, aus dem dieser Schein notwendig entstehen müsse. Und darin findet
er Trost und Mut für die Vernunft: »Denn, worauf wollte sie sich sonst verlassen, wenn sie, die al-
lein alle Irrungen abzutun berufen ist, in sich selbst zerrüttet wäre, ohne Frieden und ruhigen Be-
sitz hoffen zu können?«
Aber Kants Vernunft hat einen weiten Umfang: sie umfaßt nicht nur den Verstand, sondern auch
das Vermögen der Ideen, in denen kein Gegenstand erkannt wird, und auch das Schauen des Schö-
nen. |Dieses Schauen erhellte Kant als die Vernünftigkeit im Zusammenspiel der Erkenntnisver-
mögen, der Einbildungskraft und des Verstandes, der Freiheit und des Gesetzes; ohne Erkenntnis
eines Gegenstandes und ohne Verwirklichung eines Tuns läßt dieses Sehen des Schönen den gan-
zen Menschen in seiner totalen Vernünftigkeit seiner selbst und des übersinnlichen Substrats in-
newerden, aber nur im Spiel.
Doch auch der erweiterte Vernunftbegriff läßt Kant überall an die Grenzen geraten, wo die Ver-
nunft nicht mehr begreifen kann; er bemerkt »Geheimnis«, »Rätsel« und »Abgrund«. Insbesondere
kann die Vernunft nicht begreifen, wie Freiheit möglich ist, d.h. wie die »Revolution der Denkungs-
art« geschehen kann, durch die ich aus dem radikal Bösen meines intelligiblen Wesens heraus erst
positiv frei werde. Die »Gnade« ist ihm etwas, das die Vernunft nicht bestreiten, aber auch nicht,
ohne in Schwärmerei und in Abschwächung der eigenen sittlichen Verantwortung zu geraten, »in
ihre Maximen zu denken und zu handeln aufnehmen« kann. »Sie rechnet darauf, daß, wenn in dem
unerforschlichen Felde des Übernatürlichen noch etwas mehr ist, als sie sich verständlich machen
kann ... dieses ihrem guten Willen auch unerkannt zu statten kommen werde.«
Kant vollzog noch ein Grenzbewußtsein der sich durchsichtig auf sich selbst gründenden Ver-
nunft, und zwar so, daß, was an dieser Grenze ihm negativ bewußt wurde, in seinem Gottesbe-
wußtsein die entscheidende Tiefe ausdrückte.
Der Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels aber ließ zunächst alle von Kant gesehenen Gren-
zen der Vernunft fallen und baute schließlich in Hegel den babylonischen Turm jener Philoso-
phie, die alles in die eine Vernunft aufnahm, die nun wieder einen neuen über den Kantischen
weit hinausgehenden Sinn erhielt. Diese Vernunft ist »Mystik für den Verstand«; sie nimmt zwar
den Verstand, ohne den sie keinen Schritt tun kann, in ihre Bewegung auf, aber ihr Philosophie-
ren will das absolute Wissen einer gegenwärtig werdenden Vernünftigkeit alles Seins als Einheit
des Rationalen und Irrationalen sein. Diese Vernunft kannte ihre Grenzen nur noch als Gleich-
gültigkeiten, als schlechte Unendlichkeit, als Ohnmacht der Natur, dem Begriff zu gehorchen,
und als Zufall, der wesenlos ist.
Dieser allversöhnende, konsequenteste Idealismus wurde schon von Fichte durchbrochen,
wenn er später alles Dasein und die es durchdringende Ichheit - d.h. das in der Vernunft sich Hell-
 
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