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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0147
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86

Vernunft und Existenz

sie gründet sich durch Vernunft in allen Weisen des Umgreifenden auf ein Anderes
und zuletzt wesentlich auf Transzendenz; ja, denn die Weise ihres Sichgründens führt
nur über Vernunft. Philosophie lebt nicht aus der Vernunft allein, aber sie kann kei-
nen Schritt tun ohne Vernunft.
Vernunft ist noch nicht die Substanz, aus der Philosophie hervorgeht. Denn diese
muß sich auf mögliche Existenz gründen, die sich ihrerseits nur entfalten kann in der
Vernünftigkeit. Ich bin ein Wesen, das der Vernunft fähig ist, aber nicht aus reiner Ver-
nunft ist. Ist Vernunft nicht Substanz, so ist doch für uns keine Substanz ohne Ver-
nunft als Bedingung.
Ich kann von der Vernunft, sie personifizierend, sprechen und ihr huldigen als der
Bedingung aller Wahrheit für mich. Aber sie ist nirgends ein Bestehendes, sondern im
Zeitdasein unablässig immer wieder Aufgabe. Sie ist nicht Ziel an sich, sondern Me-
dium. Sie ist das, wodurch alles Andere erst Wesen erhält, Klarheit gewinnt, Bestäti-
gung erfährt, anerkannt wird. Es ist, als ob ohne sie alles nur Keim bleibt, der schläft.
132 | Mit der Vernunft allein kann ich nichts hervorbringen. Immer muß ich in ihr das
Andere treffen, durch das sie selbst erst ist. Das ist in jeder Aktion der Vernunft aufzu-
♦ weisen. Ich kann nichts Wirkliches nur erdenken, kann daher z.B. auch die Transzen-
denz nicht beweisen. Aber das Denken der Vernunft, das nicht mehr zwingt als ein
Wissen von Etwas (welches an dem Andern als Anschaulichkeit und bloßer Gegeben-
heit sich vollzieht), ist selbst in einer bestimmten Gestalt ein Tun der Existenz. Diese
vollzieht in dem Sichgesetztwissen von ihrer Transzendenz den Gedanken, der als sol-
cher eine Erfahrung ihres Seins ist: Was mit dem Bewußtsein meiner Existenz unaus-
weichlich verknüpft ist, ist nicht bewiesen für das Bewußtsein überhaupt, sondern für
diese Existenz, die sich in der Vernunft gültig hell wird.204 Die Vernunft vollzieht ei-
nen Gottesbeweis aus der faktischen Voraussetzung der Gottheit, zwar ohne alle lo-
gisch loslösbare Evidenz, aber erfüllend und beflügelnd für Existenz.
Das Wesen der Vernunft, für sich allein unschöpferisch zu sein, ermöglicht gerade
ihre Universalität, durch die sie überall das Schaffende in Gang zu bringen vermag. Es

werdende - als bloßes Bild der Gottheit denkt, den hiatus irrationalis zwischen Freiheit und Gott,
zwischen Dasein und Sein wiederherstellt.
155♦ Schelling durchbrach den Idealismus, den er zwar als die ab|leitende Darstellung der reinen Ver-
nünftigkeit als seine Voraussetzung bewahrte, aber negative Philosophie nannte (weil der Weg
dieser Vernunftphilosophie eigentlich der beständige Umsturz jeder Gestalt der Vernunft sei). Er
entwarf seine positive Philosophie, mit der er auf den Grund von allem, der kein vernünftiger,
sondern ein faktischer ist, dringen will. Dieser Grund ist geschichtlich. Er ist als Ereignis zu ver-
nehmen, aber nicht als Notwendigkeit zu begreifen. Er ist unüberschreitbar für uns: »Einen an-
dern Grund kann niemand legen, als der von Anfang gelegt ist.«
Schelling und Fichte suchten im Grunde aller Vernünftigkeit wieder das faktische Sein, aber,
so wahr ihre Ansätze begannen, sie erreichten es nicht, sei es weil sie in den Fesseln ihres eigenen
Idealismus blieben, sei es weil sie der möglichen Erfüllung in echter Erfahrung entbehrten.
 
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