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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0153
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Vernunft und Existenz

matisch den Besitz der Wahrheit behauptet; aber diese Unsicherheit ist in der Tat das
Zeichen ihrer Kraft im unablässigen Suchen, das allein auch die wahrhaft uneinge-
schränkte Kommunikation möglich macht, die Mensch mit Mensch über alle Zweck-
haftigkeit, Sympathie, bestimmte Inhalte und Einsichten hinaus verbinden will.
Daher kann sich philosophische Wahrheit, solange sie nicht in die Irre geht, nicht
als die eine und einzige Wahrheit verstehen. Sie sieht das Andere außer sich, zu dem
sie sich dauernd verhält, ohne es als Unwahrheit schlechthin zu verneinen und ohne
es als eigene Wahrheit aneignen zu können.
Der Aufschwung des Menschen sucht den hohen Maßstab, wo er ihn findet. So-
♦ lange wir ernst bleiben, treffen wir auf den Ernst im andern als zu uns gehörig. Dem
wahrhaft Gläubigen ist der unbedingte Gottlose näher als die gedankenlose Mittel-
mäßigkeit. Der Philosophierende aber kümmert sich von sich aus unablässig um das
♦ Andere: er ist betroffen von der kirchlichen Religion und der Gottlosigkeit. Er sucht sie
auf in ihren hohen Gestalten.
Im Bewußtsein der Philosophie war es nicht immer so. Mittelalterliche Philosophie
wußte sich als praeambula fidei;210 die Gottlosigkeit war ihr schlechthin unwahr, ein
zu vernichtender Feind. Descartes war treuer Diener der Kirche, unter deren Bedingun-
gen allein er sein Philosophieren zulassen wollte.211 Spinoza war ohne Feindschaft ge-
gen das Andere, aber auch ohne Anerkennung von dessen möglicher Wahrheit; selbst
im Besitz des Wahren sich glaubend ist er wie selig in sich ruhend, aufgehend in der
Kontemplation der Gottheit. Hegel übersetzte alles in reinen Geist, erkannte den ab-
140 soluten Geist in seinem Sinn bis auf | den Grund, vollzog seine Logik als Gottesdienst
und hielt sich für einen gläubigen Christen.212
Heute ist die Frage entschiedener gestellt und kein Ausweichen möglich. Das Phi-
losophieren sieht redlicherweise sich selber als unfähig, den Sinn des Offenbarungsglau-
♦ bens zu erreichen und behauptet gegen diesen aus eigenem Ursprung seinen Weg des
Gottsuchens; es sieht sich innerlich bedroht von dem Zweifel, dessen Endgültigkeit
Gottlosigkeit bedeuten würde, die es aus eigenem Grunde verwirft.
Dem entspricht das Verhalten der Anderen. Von orthodoxer Religion wird Philo-
sophie für gottlos erklärt, von der Gottlosigkeit für eine unredliche und ohnmächtige
Verdünnung der Religion, aus deren Säkularisierung sie als sterbender Nachfahre ent-
standen sei.
Das Philosophieren bleibt jedoch wahr nur, solange es seines eigenen unabhängi-
gen und unersetzlichen Ursprungs inne ist.
Dieser ist niemals eine soziologische Macht wie Kirchenglaube und Gottlosigkeit.
Machtlos vielmehr drängt der Geist der Philosophie aus seinem in jeder Zeit gegen-
wärtigen Ursprung in die Seelen, diese nur zu sich selbst erweckend und teilnehmen
lassend an einer Wahrheit, die keinen »Zweck« hat, nicht einem Andern dient und es
nicht bekämpft. Nur in seinem eigenen Innesein führt er zur Erfahrung der Gegenwart
 
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