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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0164
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IEinführung

I

Ich bin eingeladen, über Existenzphilosophie zu sprechen.223 Philosophie geht heute
zu einem Teil unter diesem Namen. Durch ein unterscheidendes Kennzeichen soll ein
Gegenwärtiges herausgehoben werden.
Was Existenzphilosophie genannt wird, ist zwar nur eine Gestalt der einen, uralten
Philosophie. Daß aber Existenz für den Augenblick das kennzeichnende Wort wurde,
ist nicht zufällig. Es betonte, was die eine Zeitlang fast vergessene Aufgabe der Philo-
sophie ist: die Wirklichkeit im Ursprung zu erblicken und sie durch die Weise, wie ich den-
kend mit mir selbst umgehe, - im inneren Handeln - zu ergreifen.224 Das Philosophieren
wollte aus dem bloßen Wissen von Etwas, aus den Sprechweisen, aus den Konventio-
nen und dem Spiel der Rollen - aus allen Vordergründen zurückfinden zur Wirklich-
keit. Existenz ist eines der Worte für Wirklichkeit, mit dem Akzent durch Kierkegaard:
alles wesentlich Wirkliche ist für mich nur dadurch, daß ich ich selbst bin. Wir sind
nicht bloß da, sondern unser Dasein ist uns anvertraut als Stätte und als Leib der Ver-
wirklichung unseres Ursprungs.
Schon im vorigen Jahrhundert wiederholten sich Bewegungen dieses Sinnes. Man
wollte das »Leben«, wollte »erleben«. Man forderte den »Realismus«. Es galt, statt bloß
zu wissen, selbst zu erfahren. Man wollte überall das »Echte«, suchte die »Ursprünge«,
wollte hindringen zum Menschen selbst. Die Menschen hohen Ranges wurden ent-
schiedener sichtbar; man vermochte zugleich das Wahre und Seiende im Kleinsten zu
entdecken.
|Wenn der Aspekt des Gesamtzeitalters seit einem Jahrhundert ein ganz anderer 2
war, nämlich der der Nivellierung, Maschinisierung, Vermassung, dieses Daseins der
universalen Ersetzbarkeit von Allem und Aller, in dem niemand mehr selbst da zu sein
schien, so war dies der erweckende Hintergrund. Die Menschen, die sie selbst sein
konnten, erwachten in dieser erbarmungslosen, jeden Einzelnen als Einzelnen preis-
gebenden Luft. Sie wollten sich ernst nehmen; sie suchten die verborgene Wirklich-
keit; sie wollten wissen, was wißbar ist; sie dachten durch ihr Selbstverständnis an ih-
ren Grund zu kommen.
Aber auch dieses Denken wurde nicht selten in die unernste Wirklichkeitsverschleie-
rung der Nivellierung hineingezogen durch die Verkehrung in eine tumultuarische und
pathetische Gefühls- und Lebensphilosophie: der Wille zur Selbsterfahrung des Seins
konnte sich verkehren in eine Befriedigung am nur Vitalen, der Wille zum Ursprung in
eine Sucht zur Primitivität, der Sinn für Rang in einen Verrat der echten Wertordnungen.
 
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