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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0170
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Einführung

109

Wahrheit des Schellingwortes erfuhr: die Philosophie sei ein »offenbares Geheim-
nis«232. Man kann Texte kennen, die Gedankenkonstruktionen genau nachzeichnen
und doch nicht verstehen.
Aus diesem Ursprung ist zu erfahren, was keine Wissenschaft uns lehrt. Denn aus
der wissenschaftlichen Denkungsart und dem wissenschaftlichen Wissen allein kann
Philosophie nicht wirklich werden. Philosophie verlangt ein anderes Denken, ein Den-
ken, das im Wissen zugleich mich erinnert, wach macht, zu mir selbst bringt, mich
verwandelt. -
Aber mit der Neuentdeckung des philosophischen Ursprungs in den alten Über-
lieferungen zeigte sich sogleich die Unmöglichkeit, die wahre Philosophie als fertige in
der Vergangenheit zu finden. Die alte Philosophie kann nicht, so wie sie war, die unsere
sein.
Sehen wir in ihr den historischen Ausgang unseres Philosophierens, und entwi-
ckeln wir das eigene Denken in ihrem Studium, weil es zur Klarheit allein im Umgang
mit den alten Philosophen erwächst, so ist philosophisches Denken doch jederzeit ur-
sprünglich und muß in jedem Zeitalter unter den neuen Bedingungen sich geschicht-
lich verwirklichen.
|Unter den neuen Bedingungen ist am auffallendsten die von uns erörterte Entfal- 11
tung reiner Wissenschaften. Die Philosophie kann nicht mehr naiv sein und zugleich
wahrhaftig bleiben. Es war eine naive Einheit von Philosophie und Wissenschaft, wel-
che, obgleich sie einst eine unvergleichlich eindringliche, in ihrer geistigen Situation
wahre Chiffre war, jetzt nur noch als ein trübes Vermischtsein möglich ist und daher
radikal überwunden werden muß. Damit wird, durch das Selbstverständnis von Wis-
senschaft sowohl als von Philosophie, die Bewußtheit gesteigert. Philosophie muß mit
der Wissenschaft das aus einem anderen als wissenschaftlichen Ursprung kommende
philosophische Denken verwirklichen.
Die gegenwärtige Philosophie kann daher vielleicht die Vorsokratiker in ihrer er-
habenen Größe verstehen, aber, wenn sie von ihnen unersetzliche Antriebe erfährt,
ihnen doch nicht folgen. 233 Sie kann auch nicht in der Tiefe der Naivität der philoso-
phischen Kinderfragen bleiben.234 Sie muß zur Bewahrung der Tiefe - die die Kinder
ohnehin mit dem Älterwerden zumeist verlieren - Umwege und Bewährungen inmit-
ten der heute ergriffenen Wirklichkeit und ihrer Vielfachheit finden. Diese Wirklich-
keit aber kann nirgends mehr echt bleiben und ganz gegenwärtig werden ohne Wis-
senschaft.
Spricht das Ursprüngliche zu uns aus den alten Texten, so können doch ihre Leh-
ren nicht übernommen werden. Das historische Verstehen der Lehrgestalten des Ver-
gangenen unterscheidet sich von der Aneignung des jederzeit in aller Philosophie Ge-
genwärtigen. Denn erst diese Aneignung wird ihrerseits zum Grunde der Möglichkeit
des geschichtlichen Verstehens des Fernen und auch Fremdgewordenen.
 
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