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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0189
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Existenzphilosophie

Vergegenwärtigen wir die Autorität:
Autorität ist die Einheit des Wahren, die in der Gesamtheit der Weisen des Umgrei-
fenden, sie in eins bindend, uns in geschichtlicher Gestalt als das Allgemeine und
Ganze erscheint. Oder genauer gesagt: Autorität ist die geschichtliche Einheit von Da-
seinsmacht und zwingender Gewißheit und Idee mit dem Ursprung der Existenz, die
darin sich auf Transzendenz bezogen weiß.
Daher ist Autorität die Gestalt der Wahrheit, in der die Wahrheit weder nur allge-
mein Gewußtes, noch nur von außen Befohlenes und Gefordertes, noch nur Idee ei-
nes Ganzen, sondern dieses alles zugleich ist. Und daher kommt Autorität zwar als For-
derung und Zwang von außen, aber so, daß sie zugleich von innen spricht. Autorität
bleibt der in der Transzendenz ruhende Anspruch, dem auch noch der jeweils aus ihr
Befehlende gehorcht.
Die in solchen Formeln ausgesprochene Autorität kann es jedoch im Zeitdasein
nicht als eine und allgemeine für alle Wesen geben, ohne daß sie veräußerlicht, und ohne
daß sie, zusammensinkend in bloße Daseinsmacht, gewaltsam und zerstörend würde.
Alle Autorität hat vielmehr geschichtliche Gestalt. Daher kann die Wahrheit der Au-
torität nicht ausreichend durchsichtig und in ihrem Inhalt stabilisiert werden durch
eine Wissenschaft in rationaler Verallgemeinerung. Sie umgreift vielmehr alles Wiß-
bare, ohne es zu zerstören.
Die Unbedingtheit der Autorität ist also diese geschichtliche Einheit des Wahren für
41 den aus ihr Existierenden. Aus dem Grunde, der von Anfang gelegt ist, umfängt sie | als
das geschichtlich Gewesene im Gegenwärtigen, sprechend in Bildern und Symbolen,
in Ordnungen, Gesetzen und in Denksystemen - dies alles in geschichtlicher Einsen-
kung des unvertretbar Gegenwärtigen, mit mir Identischen. -
Die Ruhe wahrer Autorität, wie sie in solcher abstrakten Vergegenwärtigung er-
scheinen kann, besteht jedoch nicht. Weil Autorität geschichtlich und damit in der
Zeit ist, ist sie in ständiger Spannung und in Bewegung durch die Spannung.
Eine Spannung ist erstens zwischen der Autorität, die ewige Stabilisierung will (die,
wenn sie ihr Ziel erreichen könnte, alles Leben der Wahrheit töten würde) und der Au-
torität, die im Durchbrechen jeder Fixierung sich neu hervorbringt (die, wenn sie ohne
Steuerung sich bewegte, alles in Chaos verwandeln würde). Ordnung wurzelt in dem,
was einmal Ordnung durchbrochen hat; die zerstörende Ausnahme wird Ursprung
neuer Autorität.
Eine Spannung ist zweitens im einzelnen Menschen zwischen Autorität und Freiheit.
Der Einzelne will als eigene Wahrheit im Ursprung seiner selbst wiederfinden, was als
Autorität von außen an ihn herankommt. Vergegenwärtigen wir diesen Prozeß des
Freiwerdens in der Autorität:251
Geglaubte Autorität ist zunächst die einzige Quelle einer echten das Wesen selbst tref-
fenden Erziehung. Der einzelne Mensch beginnt in seiner Endlichkeit von vorn. Im Wer-
 
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