Wahrheit
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Bringt Vernunft auch nichts durch sich selbst hervor, so vermag doch erst sie, anwesend
im innersten Herzen von allem Umgreifenden, dies alles zu erwecken, sein Wirklich-
und Wahrwerden zu bewirken. -
Die Vernunft fordert und wagt, um uneingeschränkt dem nichts vergessenden, all-
offenen Einheitswillen folgen zu können, die Möglichkeit einer radikalen Loslösung von
allem endlich und bestimmt Gewordenen und damit Befestigten.
Vernunft beseelt daher die negative Kraft des Verstandes, von allem absehen zu
können. Die äußersten Möglichkeiten erblickend, kann sie selbst den Gedanken ver-
suchen: es sei möglich gewesen, daß überhaupt nichts sei. Sie denkt diesen Gedanken
nicht als ein leeres beliebiges Verstandesspiel. Leibniz, Kant, vor allem Schelling konn-
ten vor der Bodenlosigkeit die Frage stellen und sich von ihr in Bewegung bringen las-
sen: warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?253 Die Frage bringt in ihrer rationa-
len Blässe doch die Situation zur Gegenwärtigkeit, in der wir erst eigentlich das Sein
des Seins erfahren als das uns Geschenkte, Unbegreifliche, Undurchdringliche, das vor
allem Denken schon ist und auf uns zukommt.
Weiter ist das Denken der Vernunft nur in der Bewegung, die kein Halten oder Auf-
hören kennt. Der Verstand will in der Befestigung verwahren; er will das Eine wissen
und das Ganze als Lehre besitzen. Vernunft dagegen bewirkt ständig den Umsturz der
Verstandeserwerbungen. Sie erstrebt die Einheit nicht als Übersicht des Ganzen, die
einem täuschenden Machtwillen vermöge des bloßen | Verstandes entspringt. Sie ist
nichts als der Drang des Überwindens und Verbindens. Es gibt wohl einen Verstandes-
stolz des Habens, aber keinen Vernunftstolz, sondern nur die aufschließende Bewe-
gung und die letzte Ruhe der Vernunft.
Der Mensch, durch den Verstand zu sich selbst gekommen, wird ratlos, wenn er die
Umstürze chaotisch erfährt und nicht vernünftig begreift. In der Erschütterung seines
Vertrauens zum Verstände steht er vor der Alternative: weniger oder mehr als Verstand
zu sein; entweder mit der Zersetzung des Erworbenen hinabzusinken in die Triebhaftig-
keit der Vitalität und aus ihr wieder sich zu retten in einen gedankenlosen Gehorsam,
oder die Gefahr zu überwinden durch Vernunft, welche alle Wahrheit als gewußte wie-
der einschmilzt und aufhebt in die entgegenkommende Wahrheit des Umgreifenden.
Wo der Mensch nach seinen höchsten Möglichkeiten greift, kann er am radikals-
ten sich betrügen. Er kann die schon erklommenen Stufen hinabstürzen und weniger
sein als er im Anfang war. Um sein Wesen zu bewahren, muß er festhalten an jeder
Weise der Vernünftigkeit, die ihm auch den Sinn seiner Verstandeserwerbungen erst
rettet. Vernunft ist, im Preisgeben jeder Verstandesfixierung, die Bedingung jeder an-
deren Wahrheit. -
Mit dem allumfassenden Einheitswillen und der überwindenden und ermögli-
chenden Negativitätwaren Grundzüge der Vernunft ausgesprochen. Aber was Vernunft
sei, ist damit nicht auf die Weise klar, wie mir eine Sache klar werden kann.
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Bringt Vernunft auch nichts durch sich selbst hervor, so vermag doch erst sie, anwesend
im innersten Herzen von allem Umgreifenden, dies alles zu erwecken, sein Wirklich-
und Wahrwerden zu bewirken. -
Die Vernunft fordert und wagt, um uneingeschränkt dem nichts vergessenden, all-
offenen Einheitswillen folgen zu können, die Möglichkeit einer radikalen Loslösung von
allem endlich und bestimmt Gewordenen und damit Befestigten.
Vernunft beseelt daher die negative Kraft des Verstandes, von allem absehen zu
können. Die äußersten Möglichkeiten erblickend, kann sie selbst den Gedanken ver-
suchen: es sei möglich gewesen, daß überhaupt nichts sei. Sie denkt diesen Gedanken
nicht als ein leeres beliebiges Verstandesspiel. Leibniz, Kant, vor allem Schelling konn-
ten vor der Bodenlosigkeit die Frage stellen und sich von ihr in Bewegung bringen las-
sen: warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?253 Die Frage bringt in ihrer rationa-
len Blässe doch die Situation zur Gegenwärtigkeit, in der wir erst eigentlich das Sein
des Seins erfahren als das uns Geschenkte, Unbegreifliche, Undurchdringliche, das vor
allem Denken schon ist und auf uns zukommt.
Weiter ist das Denken der Vernunft nur in der Bewegung, die kein Halten oder Auf-
hören kennt. Der Verstand will in der Befestigung verwahren; er will das Eine wissen
und das Ganze als Lehre besitzen. Vernunft dagegen bewirkt ständig den Umsturz der
Verstandeserwerbungen. Sie erstrebt die Einheit nicht als Übersicht des Ganzen, die
einem täuschenden Machtwillen vermöge des bloßen | Verstandes entspringt. Sie ist
nichts als der Drang des Überwindens und Verbindens. Es gibt wohl einen Verstandes-
stolz des Habens, aber keinen Vernunftstolz, sondern nur die aufschließende Bewe-
gung und die letzte Ruhe der Vernunft.
Der Mensch, durch den Verstand zu sich selbst gekommen, wird ratlos, wenn er die
Umstürze chaotisch erfährt und nicht vernünftig begreift. In der Erschütterung seines
Vertrauens zum Verstände steht er vor der Alternative: weniger oder mehr als Verstand
zu sein; entweder mit der Zersetzung des Erworbenen hinabzusinken in die Triebhaftig-
keit der Vitalität und aus ihr wieder sich zu retten in einen gedankenlosen Gehorsam,
oder die Gefahr zu überwinden durch Vernunft, welche alle Wahrheit als gewußte wie-
der einschmilzt und aufhebt in die entgegenkommende Wahrheit des Umgreifenden.
Wo der Mensch nach seinen höchsten Möglichkeiten greift, kann er am radikals-
ten sich betrügen. Er kann die schon erklommenen Stufen hinabstürzen und weniger
sein als er im Anfang war. Um sein Wesen zu bewahren, muß er festhalten an jeder
Weise der Vernünftigkeit, die ihm auch den Sinn seiner Verstandeserwerbungen erst
rettet. Vernunft ist, im Preisgeben jeder Verstandesfixierung, die Bedingung jeder an-
deren Wahrheit. -
Mit dem allumfassenden Einheitswillen und der überwindenden und ermögli-
chenden Negativitätwaren Grundzüge der Vernunft ausgesprochen. Aber was Vernunft
sei, ist damit nicht auf die Weise klar, wie mir eine Sache klar werden kann.
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