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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0197
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136

Existenzphilosophie

Was Vernunft will, scheint das im zerrissenen Zeitdasein Unmögliche. Was ihr Ziel
im Einen ist, ist nicht vorstellbar, sodaß man ihm wie einem sichtbaren Vorbild folgen
könnte. Vernunft tritt vielmehr unter der Zugkraft des Einen in den freien Raum der
Möglichkeit, um, wie es scheint, in der Bodenlosigkeit ihren Weg zu finden.
53 | Vernunft ist - wie Existenz - durch einen Sprung aus der geschlossenen Immanenz
des Seienden. Im Vergleich zu immanenten Phänomenen, wie es der Verstand ist, scheint
sie wie nichts. Ist sie das Umgreifende, das wir sind als Antrieb zum Suchen und Verwirk-
lichen des Einen, so ist dieses Umgreifende von transzendentem Ursprung und zeigt
sich doch nur in den Antrieben, Ansprüchen, Wirkungen, die wir immanent erfahren.
Es gibt gleichsam eine Atmosphäre der Vernunft. Sie verbreitet sich, wo ein alloffe-
nes Auge die Wirklichkeit selbst, ihre Möglichkeiten und ihre grenzenlose Deutbarkeit
erblickt, wo dieses Auge nicht Richter wird und keine absolute Lehre ausspricht, son-
dern mit Redlichkeit und Gerechtigkeit eindringt in Alles, was ist, es zur Geltung kom-
men läßt, nicht beschönigt und nicht verschleiert, und es nicht leicht macht durch
Eindeutigkeit.
Die Atmosphäre der Vernunft ist gegenwärtig in den erhabensten Dichtungen, zu-
mal in den Tragödien. Sie gehört zu den großen Philosophen. Sie ist noch spürbar über-
all, wo überhaupt Philosophie ist. Sie ist hell in einzigen Menschen, wie etwa Lessing,
die - noch ohne wesentliche Inhalte - wie die Vernunft selbst auf uns wirken, und de-
ren Sprache wir lesen, nur um diese Atmosphäre zu atmen.
Die Philosophie durch die Jahrtausende ist wie ein einziger Hymnus auf die Ver-
nunft - stets auch sich selber mißverstehend als fertiges Wissen, stets auch abgleitend
in vernunftlosen Verstand, daher stets übergehend in eine falsche Verachtung des Ver-
standes, stets gehaßt als der außerordentliche Anspruch an den Menschen, dem sie
keine Ruhe läßt.
Vernunft zerschlägt die Pseudowahrheit der Enge, löst den Fanatismus auf, erlaubt
nicht die Beruhigung im Gefühl und nicht die im Verstand. Vernunft ist »Mystik für
den Verstand«, den sie doch in allen seinen Möglichkeiten entwickelt, um sich selbst
ihre Mitteilbarkeit zu schaffen.
54 | Will ich im Philosophieren einen gewußten Inhalt, woran ich mich halten kann, will
ich wissen statt glauben, will ich technische Rezepte für Alles statt aus dem Ganzen al-
ler Weisen des Umgreifenden zu existieren, will ich psychotherapeutische Anweisun-
gen statt Freiheit des Selbstseins, so läßt Philosophie mich im Stich. Sie spricht erst da,
wo Wissen und Technik versagen. Sie zeigt, aber sie gibt nicht. Sie bewegt sich mit den
erhellenden Strahlen des Lichts, aber sie bringt nicht hervor.
Hatten wir in der Vergegenwärtigung des Umgreifenden nichts als die Weite der
Räume, in denen mögliches Sein entgegenkommt, so gewinnen wir in der Vergegen-
wärtigung des Wahrseins nichts als Wege zu solchen Möglichkeiten.
 
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