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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0199
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IIII. Wirklichkeit

Wenn ich den Raum des Umgreifenden mir erhelle, so ist es, als ob ich die dunklen Mau-
ern meines Gefängnisses verwandle in durchsichtige: ich erblicke die Weite; alles was
ist, kann mir gegenwärtig werden. - Wenn ich dann die Wahrheit vergewissere, durch
die mir das Sein offenbar werden soll, so ist es, als ob ich mit dem Lichte ginge und frei
würde. - Aber solange das Licht nichts trifft, ist es ein Strahlen, in dem ich mit den Din-
gen wie aufgelöst, unwirklich bin. Ich erleide den Tod der Helle254: ich kann nicht lieben,
weil keine Wirklichkeit in mir und vor mir ist. Es muß etwas sein, das wächst im Lichte
der Wahrheit: die Endfrage des Philosophierens bleibt die nach der Wirklichkeit selbst.
Noch bevor wir philosophieren, scheint die Frage nach der Wirklichkeitin jedem Augen-
blick unseres Daseins schon beantwortet. Wir gehen mit Dingen um, wir gehorchen den
Weisen des Wirklichseins, wie sie uns überkommen sind. Es gibt dieses Dasein der
Menschen, diese Ansprüche und Gesetze; es gibt die planvolle Einrichtung und Len-
kung menschlicher Verhältnisse zum Richtigen. Es gibt die Körper, die Ursächlichkeit
des Geschehens; es gibt die Atome, die Energie; technisch ist die Natur zu bewältigen;
sie scheint verläßlich, obgleich unsere technische Nutzung dessen, was erfunden
wurde, sich oft kaum anders vollzieht wie das magische Tun des Primitiven - ebenso-
wenig begreifend und ebenso gedankenlos.
56 | In dieser Fraglosigkeit ist eine scheinbar befriedigende Gegenwart des Wirklichen.
Erst das Bewußtsein des Mangels erweckt die Frage: Wenn ich Wirklichkeit begehre, die
ich noch nicht weiß und noch nicht bin, und wenn diese Wirklichkeit nicht zweck-
haft in der Welt durch eine Tätigkeit erreichbar ist, die den Stoff bearbeitet, Veranstal-
tungen trifft, Unternehmungen wagt, erst dann entsteht das Philosophieren. Ich frage
nach der Wirklichkeit.
Ich will im Ganzen wissen, was eigentlich wirklich ist und gehe den Weg des Erken-
nens.
Ich will sein, will nicht nur vitale Dauer, sondern will eigentlich ich selbst sein, will
Ewigkeit und gehe den Weg des wirkenden Tuns.
Gehen wir auf dem ersten Weg - des Erkennens - und wollen etwa wissen, was das
Wirkliche der Natur ist, so hören wir: Alles von uns Vorgestellte gibt es als solches nicht:
es ist die Subjektivität der Erscheinung für uns. Das wurde Schritt für Schritt erkannt:
Zunächst die perspektivische Verkürzung der Dinge (bei der ersten Erkenntnis der astro-
nomischen Welt); dann die Subjektivität der sekundären Sinnesqualitäten (Farbe, Ton
 
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