Metadaten

Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0204
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Wirklichkeit

143

2. Die Geschichte des Menschen hat keinen möglichen Endzustand, keine Dauer ei-
ner Vollendung, kein Ziel. Jederzeit ist Vollendung möglich, die zugleich Ende und Un-
tergang ist. Die Größe des Menschen und sein Wesentliches stehen unter der Bedin-
gung ihres Augenblicks. Das Wirkliche öffnet sich nur dem Übergang - und zwar nicht
dem beliebigen Augenblick bloßen Geschehens, sondern dem erfüllten Augenblick,
der unwiederholbar, unvertretbar Gegenwart der Wirklichkeit selbst im Verschwinden
ist, entschieden für die Existenz, die darin steht, noch im Abglanz für den Betrachter,
der im Verstehen an dieses Unverständliche reicht.
3. Die Weltwirklichkeit wird keine Ganzheit, mit der der Mensch identisch und da-
durch eigentlich wirklich werden könnte. Als Welt ist die Wirklichkeit immer auch
schon verloren. Die Vollendungsvorstellungen des Ganzen zeigen nur eine täuschende
Harmonie, sei diese als die abschließende Ordnung einer durchsichtigen Vernunft,
oder als das Ganze eines Allebens, oder als der ständige Ausgleich der Gerechtigkeit
im Kampfe, oder als Kreislauf, oder als der Ablauf eines Abfalls und der nunmehr not-
wendigen Wiederherstellung, oder wie immer gedacht. -
Zwischen dem Nichts und dem All, ständig nur Übergang, ohne Vollendbarkeit ei-
nes allumschließenden Ganzen, in jedem Fall ist der Mensch wirklich nur als geschicht-
lich. Die Wirklichkeit als Geschichtlichkeit ergreifen heißt nicht, sie als historisch wis-
sen und dann nach diesem Wissen sich richten (etwa aus dem Wissen um den Ort des
Zeitalters in einer Gesamtgeschichte die Aufgabe dieses Zeitalters und meine Aufgabe
in ihm abzuleiten). Sondern es heißt | eindringen in den Ursprung durch Identischwerden
mit zeitlich konkreter erscheinender Wirklichkeit, in der ich stehe.
Dafür gibt es viele Formulierungen, die mißverstehbar werden als Anweisungen zum
Verhalten, aber wahr bleiben als Hinweise auf die Weisen des geschichtlichen Inne-
werdens der Wirklichkeit: Dem Augenblick Genüge tun; der Aufgabe des Tages dienen;
das Unvertretbare vollziehen; ganz gegenwärtig sein. Ferner: Die Tiefe der Gegenwart
durch den Grund finden, der in der Vergangenheit gelegt ist, und durch den Raum des
Möglichen, aus dem die Zukunft entgegenkommt: Erinnerung und Zukunftsvision
werden Wirklichkeit der Gegenwart, nicht Fernen, in die wir aus der Gegenwart flie-
hen; sie steigern die Gegenwart zur ewigen Gegenwart. - Wirklichkeit ist nur gegen-
wärtig und als gegenwärtig geschichtlich, unwiederholbar.
Allein durch die Geschichtlichkeit werde ich des eigentlichen Seins der Transzen-
denz gewiß - nur durch Transzendenz wird das vergängliche Dasein geschichtliche
Substanz.
Wir versuchen ein drittes Beispiel: Eigentliche Wirklichkeit ist für uns nur, wo sie eine
ist.
Mit dem Hellwerden der Welt durch unser Erkennen der Wirklichkeiten geht jede
Einheit zunächst verloren:

64
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften