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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0210
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Wirklichkeit

149

spricht, wenn sie ist, das Wirkliche selbst; das Philosophieren kann nur schweigen, so-
fern hier Wirklichkeit ist - aber es wird sogleich denken, sofern hier Sätze, Behauptun-
gen, sinnliche Phänomene, Forderungen in der Welt auftreten.
Wir charakterisieren die Religion, wie sie aussieht, wenn man sie von der Philosophie
her, also von außen, erblickt. Obgleich diese Aspekte der Religion unausweichlich ent-
stehen, ist der Vorbehalt zu machen, daß sie ungenügend bleiben, ja vielleicht an der
Wirklichkeit des Glaubens der Religion vorbeisehen. Wir wählen aus solcher Charak-
teristik wenige Züge aus. Die drei erörterten Beispiele | philosophischen Transzendie- 73
rens zur Wirklichkeit sollen als Leitfaden dienen.
I. Wo Wirklichkeit ohne Möglichkeit sie selbst ist, muß sie, wenn sie für uns ist, Spra-
che gewinnen und ansprechbar werden. Sofern Sprache aber ein Denken und ihr In-
halt ein Gedachtes ist, würde sie das Wirkliche sogleich wieder als ein Mögliches den-
ken, das unter anderem Möglichen erst wirklich wurde.
Die Form der Sprache, in der das fraglose Sosein des Wirklichen aussprechbar wird,
muß die Gestalt eines Denkens sein, das zugleich aufhört zu denken.
Eine solche Form ist etwa Mythus und Märchen: es wird eine Geschichte erzählt, und
zwar nicht pragmatisch (d.h. in ausreichendem Kausal- und Motivzusammenhang,
durch den das Geschehene begreiflich und damit zu einem gemacht wird, das auch
anders hätte sein können),263 sondern als fragloses Ereignis, bei dessen Erzählung nur
die Wirklichkeit des »so ist es«, »so geschah es« fühlbar ist, ohne daß die Frage nach
anderer Möglichkeit im Verwundern aufkäme. Die Wirklichkeit wird als unverständ-
lich selbstverständlich einfach hingenommen. Ein Anschauliches ohne Begriff und
ohne Allgemeinheit eines Gedachten ist hier die Gestalt, in der das Ganze des Wirk-
lichseins gefühlt wird. Mythus und Märchen können daher gerade dann, wenn sie
nichts erklären, wenn sie, gemessen an rationaler Konsequenz Kausalität Zweck, am
sinnlosesten sind, von größter Tiefe und unendlicher Deutbarkeit sein.
Mythus und Märchen ist aber nur eine Form der Sprache der Wirklichkeit. Allge-
mein gilt: Was nur als Geschichte erzählt werden kann, das ist die Wirklichkeit: z.B. daß
überhaupt etwas ist und nicht nichts ist; - das Sosein der wirklichen Welt; - die Urphä-
nomene als Erscheinung dieser Wirklichkeit.264
Erst die Sprache der Phantasie - so scheint es - trifft die Wirklichkeit, welche sich je-
der Erforschbarkeit entzieht.
| Erst im Hören des Seins als Chiffre ist das Vernehmen der fraglosen265 Wirklichkeit; 74
im Hören ist es wie eine Verwandlung: nicht nur in die Transparenz, sondern in die
grundlose Notwendigkeit, die nicht mehr der Gegensatz der Möglichkeit ist.
Die Sprache der transzendenten Wirklichkeit ist eine Gegenständlichkeit unver-
gleichlichen und unableitbaren Ursprungs:
Es ist die Sprache der Chiffren für die Philosophie. Es ist die Gegenwart der wirkli-
chen Transzendenz in Mythus und Offenbarung für Religion.
 
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