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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0212
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Wirklichkeit

151
vermag den Symbolen seiner Religion vielleicht mit einer außerordentlichen Innig-
keit verbunden zu sein. Er verwehrt jede Verletzung. Die Symbole können auf uner-
setzliche Weise zu ihm sprechen und ihm als Zeichen einer Wirklichkeit um so uner-
gründlicher werden, je mehr er sie | deuten möchte. Aber diese Symbole können ihm 76
nicht die Ausschließlichkeit des spezifisch Heiligen bewahren. Sie bleiben ihm wirk-
lich Symbole nur dadurch, daß sie unendlich, d.h. in keine Dogmatik und kein zweck-
haftes Tun einschließbar sind.
Die Chiffre ist für Philosophie die Gestalt der transzendenten Wirklichkeit in der
Welt, in der alles Chiffre sein kann und nichts für den Verstand zwingend Chiffre ist.
Die Chiffre kann nicht durch anderes gedeutet werden. Aber sie hört auf Chiffre zu
sein, und wird eine empirische Wirklichkeit, wenn sie als eine Handgreiflichkeit des
in der Welt sich abschließenden Heiligen gesondert wahrgenommen werden will.
2. Philosophisch kann Transzendenz jederzeit geschichtlich ursprünglich begriffen
werden und wird nur geschichtlich gegenwärtig. Das bedeutet aber, daß ihre objektive
Erscheinung nicht Geltung und Wahrheit für alle Menschen zu werden vermag. Für
den Offenbarungsglauben der Religion dagegen ist die Transzendenz in der histori-
schen Einmaligkeit beschlossen, die als diese eine, objektiv für alle, ausschließend gül-
tig und die Bedingung der Seligkeit für jedes Wesen ist.
Das ist - von der Philosophie her gesehen - eine Verwandlung der Geschichtlichkeit
selbst. Nachdem es die Tiefe des Offenbarungsglaubens war, den unüberschreitbaren
Grund des existentiellen Glaubens in der Geschichtlichkeit zu ergreifen, kann diese
Verwandlung dazu führen, die existentielle Geschichtlichkeit selbst zu verlieren. Denn
diese muß sich ihrem unmittelbaren transzendenten Ursprung versagen, wenn ich,
statt in meiner faktischen Geschichtlichkeit zu existieren, diese versinken lasse in der
einen einzigen, universalen. Indem ich glaube an die absolute Wirklichkeit einer an
sich auch nur besonderen Geschichtlichkeit, die alle Geschichtlichkeit in sich aufsau-
gen soll, breche ich die mögliche Kommunikation zu | anderer Geschichtlichkeit ab, 77
um sie als Material in die eigene hineinzuzwingen.
Was jedem vergönnt ist als seine Geschichtlichkeit, als seine Erinnerung, als sein
Eines, was ihm an der Grenze vor Augen steht, das ist zwar in unlösbarem Zusammen-
hang mit einer gemeinschaftlichen Überlieferung, die um so tiefer, erweckender und
konzentrierender wird, je mehr sie eine auf alle menschlichen Möglichkeiten und
Wirklichkeiten erweiterte Geschichtlichkeit in ihrer Vieldeutigkeit und unablässigen
Beweglichkeit übernimmt in die eigene Erinnerung. Aber diese gemeinschaftliche
Überlieferung darf - philosophisch gesehen - sich nicht zur einen, absoluten Welt-
geschichtlichkeit für alle verabsolutieren: erstens weil andere Geschichtlichkeit aus
ihrem Ursprung ihr Recht hat und geistig nicht vernichtet werden, sondern mitspre-
chen soll in dem zeitlich nicht aufhörenden Prozeß des Fragens und Infragegestellt-
werdens; zweitens weil die unersetzbare Geschichtlichkeit des Einzelnen nicht die
 
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