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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0217
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Existenzphilosophie

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den, mit der Teilnahme aller an den Wissenschaften verbreitete sich ein Aberglaube
an unverstandene Wissenschaftsinhalte.
In den gleichen Zeiten geschah ein Bewußtseinsverlust des Menschen, insbeson-
dere ein unaufhaltsames Versinken sogar der Verstehensmöglichkeit für menschliche
Gehalte, Schicksale, Aufschwünge, die noch bis zum 19. Jahrhundert in Dichtungen
84 ihre Sprache und in leben|den Menschen ihre Wirklichkeit hatten. Wenn Homer, So-
phokles, Dante, Shakespeare, Goethe den Menschen immer weniger angehen, so ist
wohl die Anklage: daran haben Wissenschaft und Philosophie schuld. Sie hätten den
Menschen gelehrt, durch äußerliche Gedanken an allem zu zweifeln, und sie hätten
durch ihren Rationalismus in der Folge die Tiefe verschüttet; alles, was ist, ist nichts
weiter als das, was seine natürliche Erkennbarkeit von ihm zeigt, d.h. zuletzt eine platte
Tatsächlichkeit.
Die Frage ist: ist nicht die Philosophie als eine ruinöse und zersetzende Denkweise
zu verwerfen?
Darauf ist zu antworten: Solche allgemeinen, anklagenden Behauptungen über ur-
sächliche Zusammenhänge sind fragwürdig. Sie suggerieren, aber halten nicht stand.
Man ist dieser pessimistischen oder optimistischen Universalbeurteilungen der Welt-
geschichte und der Zukunft überdrüssig. Man will zwar Möglichkeiten wissen und das
Unübersehbare spüren; dann aber will man zuerst gegenwärtig tun und sein, was man
kann, und was jetzt zu verwirklichen ist - und was nicht abhängt von einem weltge-
schichtlichen Totalwissen.
Darin ist und bleibt eine Aufgabe die des Philosophierens: uns aufschließen für die
Weite des Umgreifenden, - Kommunikation durch jeden Sinn von Wahrheit in lieben-
dem Kampfe wagen, - Vernunft noch vor dem Fremdesten und vor dem Versagenden
geduldig und unablässig wach erhalten, - heimfinden zur Wirklichkeit. - Ist diese Auf-
gabe möglich?
Es ist ein altes Wort, daß in den Wissenschaften halbes Wissen vom Glauben weg,
ganzes Wissen zum Glauben zurückführt.272 In der Tat: wissenschaftlich wissen, heißt
kritisch und methodisch wissen - heißt wissen, was man weiß, und was man nicht
weiß, - und heißt wissen um die Grenze des Wissens überhaupt, - heißt philosophisch
85 bei der Wissenschaft sein. Ohne das sind wissenschaftliche | Ergebnisse als Sätze und
Worte der Inhalt von Aberglauben.
Man kann das Wort von den Wissenschaften abwandeln für die Philosophie: halbe
Philosophie führt von der Wirklichkeit fort, ganze zu ihr hin. Halbe Philosophie mag
jene Folge haben, die die anklagende Vision des Zeitalters ihr zuschreibt, mag sich ver-
zetteln in vielerlei Problemen, im historischen Wissen von Lehrstücken, im Einfall, in
den Formeln, in dem hin und her erwägenden Verstand - und mag Wirklichkeit ver-
lieren. Ganze Philosophie, dieser Möglichkeiten Herr, ist wesentlich das Konzentrie-
rende, worin der Mensch er selbst wird, indem er der Wirklichkeit teilhaftig wird.273
 
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