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Karl Jaspers an Jean Wahl
Unconcretheit zu gewinnen. So muß z.B.a überwunden werden die fordernde und
gleichsam befehlende Vorwegnahme des geschichtlich noch zu Entscheidenden; wer
sich philosophierend mitteilt, muss das Gegenteil des Diktatorischen gewinnen, in-
dem er in einer scheinbaren Biegsamkeit und Weichheit fast verschwindetb und da-
durch dem, der hört, den Raum ganz für sich selbst öffnet; er wird ihn lieber darinc ver-
zweifeln lassen, wenn er nicht aus eigenem Grunde entgegenkommend philosophiert,
als dass er ihm Ersatz anböte. Ferner muss unter anderen Concretheiten überwunden
werd[e]n z.B. die des Psychologisierens, das anschaulich gibt und darin grade verdirbt;
das Philosophieren muss jene Abstraktheit suchen, die durch ihre Form tiefste Wirk-
lichkeit zu bewegen vermag. Die Psychologie - heute in Gestalt der Psychoanalyse - ist
wie ein gespenstischer Doppelgänger der Philosophie. Folgt man ihm, so ist alle Phi-
losophie verloren. Aber fast für jede Erscheinungsweise der Philosophie bietet das Psy-
chologisieren eine verkehrte Parallele. So ist die concrete Handlungsweise, alles fakti-
sche Tun des philosophierenden Menschen relevant zum Verständnis und zum Prüfen
seines philosophischen Gedankens. Denn Philosophie ist nicht wie Wissenschaft eine
ablösbare Wahrheit. Bis in den Ton, in die entscheidended Nuance wird intuitiv wie-
dererkennbar, was der Denkende selbst ist, und was sich in seinem gesamten Leben
zeigt. Aber die psychologische Analyse - wenn die Psychoanalyse den Gegner nicht
sachlich sondern dadurch, dass sie ihn psychoanalysiert, bekämpft - gibt davon nur
ein Zerrbild, das in der Wurzel unwahr ist. Aber dieses Zerrbild weist auf die Wahrheit:
im Philosophieren gehe ich mit den Gedanken des Andern so um, dass ich durch sie
mit dem Denker selbst in eine Nähe gerate, die um so tiefer sein kann, je reiner in der
Form die Gedanken geworden sind. Die »concreten« Analysen meiner Philosophie
wollen ein Durchschreiten des Psychologischen zur intensiven Vergegenwärtigung
der möglichen Existenz sein.
7) Sie fragen, ob Rimbaud, van Gogh, Nietzsche, Kierkegaard nicht existentieller
und wahrhaft philosophischer seiene als die Existenzphilosophie. Dass eine Philoso-
phie existentiell sei, ist allerdings eine Unmöglichkeit. Nur ein Mensch ist im Zeitda-
sein mögliche Existenz ... Ich bin zufrieden, wenn ich mit zu denen gehöre, die, wie
Sie sagen, den Wert jener Ausnahmen besser fühlbar gemacht haben.
8) Dass Heidegger mit mir zusammen genannt wird, als ob wir dasselbe täten, ist,
wie mir scheint, für beide ein Anlass zum Missverstandenwerden. Gemeinsam war uns
vielleicht eine kritisch-negative Haltung zur traditionellen Universitätsphilosophie
a z.B. hs. Einf.
b fast verschwindet hs. Einf.
c darin hs. Vdg. für damit
d entscheidende hs. Vdg. für entschwindende
e seien hs. Vdg. für sind
Karl Jaspers an Jean Wahl
Unconcretheit zu gewinnen. So muß z.B.a überwunden werden die fordernde und
gleichsam befehlende Vorwegnahme des geschichtlich noch zu Entscheidenden; wer
sich philosophierend mitteilt, muss das Gegenteil des Diktatorischen gewinnen, in-
dem er in einer scheinbaren Biegsamkeit und Weichheit fast verschwindetb und da-
durch dem, der hört, den Raum ganz für sich selbst öffnet; er wird ihn lieber darinc ver-
zweifeln lassen, wenn er nicht aus eigenem Grunde entgegenkommend philosophiert,
als dass er ihm Ersatz anböte. Ferner muss unter anderen Concretheiten überwunden
werd[e]n z.B. die des Psychologisierens, das anschaulich gibt und darin grade verdirbt;
das Philosophieren muss jene Abstraktheit suchen, die durch ihre Form tiefste Wirk-
lichkeit zu bewegen vermag. Die Psychologie - heute in Gestalt der Psychoanalyse - ist
wie ein gespenstischer Doppelgänger der Philosophie. Folgt man ihm, so ist alle Phi-
losophie verloren. Aber fast für jede Erscheinungsweise der Philosophie bietet das Psy-
chologisieren eine verkehrte Parallele. So ist die concrete Handlungsweise, alles fakti-
sche Tun des philosophierenden Menschen relevant zum Verständnis und zum Prüfen
seines philosophischen Gedankens. Denn Philosophie ist nicht wie Wissenschaft eine
ablösbare Wahrheit. Bis in den Ton, in die entscheidended Nuance wird intuitiv wie-
dererkennbar, was der Denkende selbst ist, und was sich in seinem gesamten Leben
zeigt. Aber die psychologische Analyse - wenn die Psychoanalyse den Gegner nicht
sachlich sondern dadurch, dass sie ihn psychoanalysiert, bekämpft - gibt davon nur
ein Zerrbild, das in der Wurzel unwahr ist. Aber dieses Zerrbild weist auf die Wahrheit:
im Philosophieren gehe ich mit den Gedanken des Andern so um, dass ich durch sie
mit dem Denker selbst in eine Nähe gerate, die um so tiefer sein kann, je reiner in der
Form die Gedanken geworden sind. Die »concreten« Analysen meiner Philosophie
wollen ein Durchschreiten des Psychologischen zur intensiven Vergegenwärtigung
der möglichen Existenz sein.
7) Sie fragen, ob Rimbaud, van Gogh, Nietzsche, Kierkegaard nicht existentieller
und wahrhaft philosophischer seiene als die Existenzphilosophie. Dass eine Philoso-
phie existentiell sei, ist allerdings eine Unmöglichkeit. Nur ein Mensch ist im Zeitda-
sein mögliche Existenz ... Ich bin zufrieden, wenn ich mit zu denen gehöre, die, wie
Sie sagen, den Wert jener Ausnahmen besser fühlbar gemacht haben.
8) Dass Heidegger mit mir zusammen genannt wird, als ob wir dasselbe täten, ist,
wie mir scheint, für beide ein Anlass zum Missverstandenwerden. Gemeinsam war uns
vielleicht eine kritisch-negative Haltung zur traditionellen Universitätsphilosophie
a z.B. hs. Einf.
b fast verschwindet hs. Einf.
c darin hs. Vdg. für damit
d entscheidende hs. Vdg. für entschwindende
e seien hs. Vdg. für sind