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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0238
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Was ist Existentialismus?

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immer nur dieses, nie nur allgemein, mit keinem anderen völlig identisch, daher nicht
ersetzbar ist? Sartres Antwort ist: Die Existenz geht der Essenz vorher.334 Dieser Satz ist
die fast feierliche terminologische Redeform geworden, mit der jeder Existentialist Teil-
nahme an der Fachphilosophie zu haben meint.
Nun aber ist die Verschiedenheit der Grundhaltungen der Denker und Schriftstel-
ler, die man unter dem Namen der Existenzphilosophie zusammenfaßt, doch so groß,
daß man trotz jenes Gemeinsamen versucht ist, überhaupt keine Verwandtschaft zwi-
schen ihnen anzuerkennen.
Das, was Existenz heißt, ist dem einen das einzelne Dasein als solches, das nun ein-
mal so ist und sich behauptet. Dem anderen aber ist sie die Möglichkeit, aus Freiheit
ich selbst zu werden. Mit anderen Worten: Sie ist dem einen der Inhalt einer Seinsaus-
sage, dem anderen Appell an eine Möglichkeit, die er durch sein Tun, seinen Ent-
schluß, sein Entscheiden verwirklichen oder versäumen kann.335
Dem einen ist die Existenz das Unableitbare, aus sich selbst Sei|ende (ich schaffe
mich selber). Dem anderen ist Existenz nur ineins mit der Macht, durch die sie sich ge-
setzt weiß, die Transzendenz (ich habe mich nicht selbst geschaffen). Je entschiedener
ich frei bin, desto klarer wird mir bewußt, daß ich in meiner Freiheit mir geschenkt
werde. Oder anders: Ich kann zwar wollen, wenn mir mein Wollenkönnen zuteil wird
(ich weiß nicht wie und woher), aber ich kann nicht das Wollen wollen, wenn es mir
ausbleibt. Ich bin frei durch eine Macht, die nicht die meine ist.
Der eine faßt die Freiheit als die Bedingungslosigkeit, vermöge der alles an mir liegt;
ich kann und darf wollen, was ich will. Dem anderen aber liegt in der Freiheit das Fin-
den der Notwendigkeit dessen, was geschehen soll und gefordert wird durch eine
Macht, die ich in meinem Einverständnis wiedererkenne als das, was nicht nur ich
selbst bin. Der eine schwelgt in der Feststellung des Absurden in allem Dasein, der Herr-
schaft des Schrecklichen oder des Ekligen, des Perversen und des Verzweifelten (es
bleibt nur das Standhalten vor dem Nichts, die Freiheit des Ertragenkönnens im Mit-
tun des Absurden). Der andere findet in der Grenzsituation des Widersprechenden,
Unlösbaren, Ausweglosen, im Scheitern selbst den Aufschwung zum Innewerden des
transzendenten Seins.
Warum aber der Name Existenzphilosophie? Alle jene Gegensätze sind dies doch
unter Voraussetzung des Gemeinsamen, nämlich jenes Ernstes angesichts des Äußers-
ten. Die allem bestimmten Denken vorausgehende Stimmung der modernen Lebens-
wirklichkeit zeigte Nietzsche: »Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders
kommen kann, die Heraufkunft des Nihilismus.«336 Weil dieses Äußerste für Kierke-
gaard und Nietzsche so überwältigend gegenwärtig war, orientiert sich heute die Phi-
losophie an ihnen. Weil das Äußerste aber schon von Anfang an aller ursprünglichen
Philosophie die Frage gab, wurde unsere Philosophie wieder fähig, die alte Philosophie
fast als gegenwärtige zu vernehmen. Nur infolge der propagandasüchtigen Gewohn-

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