Stellenkommentar
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sittliche Wirklichkeit, die in ihr sich mitteilt. [...] Das Politische ist darin nur eine Dimension,
und zwar eine unglückselige, von Katastrophe zu Katastrophe gehende Geschichte. Was
deutsch ist, das lebt in einem großen geistigen Raum, geistig schaffend und kämpfend,
braucht sich nicht deutsch zu nennen, hat keine deutschen Absichten und keinen deutschen
Stolz, sondern lebt geistig von den Sachen, den Ideen, der weltweiten Kommunikation.«
Deutsch »im ethischen Sinne« meint also Sprache, geistiges Leben, Religiosität und Sittlich-
keit - und Distanz zur Politik, jedenfalls zur eigenen politischen Geschichte. Neu ist dabei
vor allem das Moment der Weltoffenheit. Bereits 1933 hatte Jaspers den später (erst auf nach-
haltigen Druck des Verlags) geänderten Untertitel seiner Weber-Monographie (»Deutsches
Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren«) Hannah Arendt gegen-
über verteidigt, das Wort »deutsch« sei hier »ethisch« gemeint (vgl. K. Jaspers an H. Stern, 3.
Januar 1933, Briefwechsel 1926-1969, 54). Aber in der von Arendt kritisierten Passage, »in wel-
cher Sie »Vernünftigkeit und Menschlichkeit< doch zu so etwas wie einer Eigentümlichkeit
deutschen Wesens machten« (H. Stern an K. Jaspers, 1. Januar 1933, ebd., 52), klingt hörbar
noch ein George'scher Ton des geheimen Deutschlands an, vgl. »Max Weber«, 427, über die
Auszeichnung des »deutschen Wesens, das, öffentlich wenig sichtbar, in der geheimen Seele
deutscher Menschen um so wirksamer ist, des Wesens eigentlicher Vernünftigkeit und
Menschlichkeit aus dem Ursprung der Leidenschaft«. Jaspers schränkt die Formulierung zwar
ein (»Wenn ich sage, deutsches Wesen sei Vernünftigkeit usw., so sage ich nicht, Vernünftig-
keit sei nur deutsch«, Briefwechsel 1926-1969, 53), setzte jedoch weiterhin auf im Verborge-
nen wirksame Bindekräfte und eine philosophieaffine Vorbildlichkeit des deutschen Geistes
- auch für die eigene Person, wie Tagebuchnotizen vom März 1939 verraten: »Das Werk zu
vollenden ist mein Dienst. Dieses Werk allein berechtigt mich in der Welt. Es ist ein deutsches
Werk«: »Es bleibt eine Verbundenheit mit dem, wenn auch unsichtbar gewordenen deut-
schen Genius, die alle Schmerzen zu erleiden verlangt und nur in zwingender Notwendigkeit
erlaubt auszuwandern« (»Tagebuch 1939-1942«, 148). In der Ablehnung des von ihm damals
aus »oppositioneller Verzweiflung [...] erhobenen Anspruch: Ich bin Deutschland« (»Die
Schuldfrage«, 114; vgl. Philosophische Autobiographie, 76 und »Was ist Deutsch?«, 360-361) wa-
ren sich Gertrud Jaspers und Hannah Arendt jedenfalls einig: H. Arendt an G. Jaspers, 10. Mai
1946, in: H. Arendt, K. Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, 77.
Breiten Raum, entlastet vom Emigrationsdruck, nimmt das Thema dann wieder in der ers-
ten Nachkriegsvorlesung »Die geistige Situation in Deutschland« ein, die wohl bereits in den
Rahmen des Buchprojekts über »Deutsche Selbstbesinnung« oder »Deutsches Selbstbewußt-
sein« gehört, vgl. aus dem publizierten Teil der Vorlesung: »Die Schuldfrage«, 67-74, und S. 114
den Appell: »nicht deutsch zu sein, wie man nun einmal ist, sondern deutsch zu werden, wie
man es noch nicht ist, aber sein soll, und wie man es hört aus dem Anruf unserer hohen Ah-
nen, nicht aus der Geschichte der nationalen Idole«. Der Wechsel nach Basel forciert (emo-
tionalisiert) die »Deutschlandfrage« zusätzlich, durchaus auch in der Ambivalenz des Politi-
schen: »Es ist doch ein tief einschneidender Schnitt. Längst überwunden geglaubte Schmerzen
werden wieder wach: als Deutsche sind wir entweder illusionären Denkgewohnheiten ausge-
liefert oder losgelöst vom politischen Boden, gleichsam nackt, faktisch preisgegeben und da-
mit aufgeschlossen für den Ursprung dessen, was wir als Deutsche eigentlich sein können. Die
Deutschlandfrage wird mir jetzt schon eindringlicher als bisher. Aus meiner jetzigen Lage, in-
nerhalb und politisch zugleich ausserhalb, mit wachsender Empfindlichkeit, hoffe ich noch
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sittliche Wirklichkeit, die in ihr sich mitteilt. [...] Das Politische ist darin nur eine Dimension,
und zwar eine unglückselige, von Katastrophe zu Katastrophe gehende Geschichte. Was
deutsch ist, das lebt in einem großen geistigen Raum, geistig schaffend und kämpfend,
braucht sich nicht deutsch zu nennen, hat keine deutschen Absichten und keinen deutschen
Stolz, sondern lebt geistig von den Sachen, den Ideen, der weltweiten Kommunikation.«
Deutsch »im ethischen Sinne« meint also Sprache, geistiges Leben, Religiosität und Sittlich-
keit - und Distanz zur Politik, jedenfalls zur eigenen politischen Geschichte. Neu ist dabei
vor allem das Moment der Weltoffenheit. Bereits 1933 hatte Jaspers den später (erst auf nach-
haltigen Druck des Verlags) geänderten Untertitel seiner Weber-Monographie (»Deutsches
Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren«) Hannah Arendt gegen-
über verteidigt, das Wort »deutsch« sei hier »ethisch« gemeint (vgl. K. Jaspers an H. Stern, 3.
Januar 1933, Briefwechsel 1926-1969, 54). Aber in der von Arendt kritisierten Passage, »in wel-
cher Sie »Vernünftigkeit und Menschlichkeit< doch zu so etwas wie einer Eigentümlichkeit
deutschen Wesens machten« (H. Stern an K. Jaspers, 1. Januar 1933, ebd., 52), klingt hörbar
noch ein George'scher Ton des geheimen Deutschlands an, vgl. »Max Weber«, 427, über die
Auszeichnung des »deutschen Wesens, das, öffentlich wenig sichtbar, in der geheimen Seele
deutscher Menschen um so wirksamer ist, des Wesens eigentlicher Vernünftigkeit und
Menschlichkeit aus dem Ursprung der Leidenschaft«. Jaspers schränkt die Formulierung zwar
ein (»Wenn ich sage, deutsches Wesen sei Vernünftigkeit usw., so sage ich nicht, Vernünftig-
keit sei nur deutsch«, Briefwechsel 1926-1969, 53), setzte jedoch weiterhin auf im Verborge-
nen wirksame Bindekräfte und eine philosophieaffine Vorbildlichkeit des deutschen Geistes
- auch für die eigene Person, wie Tagebuchnotizen vom März 1939 verraten: »Das Werk zu
vollenden ist mein Dienst. Dieses Werk allein berechtigt mich in der Welt. Es ist ein deutsches
Werk«: »Es bleibt eine Verbundenheit mit dem, wenn auch unsichtbar gewordenen deut-
schen Genius, die alle Schmerzen zu erleiden verlangt und nur in zwingender Notwendigkeit
erlaubt auszuwandern« (»Tagebuch 1939-1942«, 148). In der Ablehnung des von ihm damals
aus »oppositioneller Verzweiflung [...] erhobenen Anspruch: Ich bin Deutschland« (»Die
Schuldfrage«, 114; vgl. Philosophische Autobiographie, 76 und »Was ist Deutsch?«, 360-361) wa-
ren sich Gertrud Jaspers und Hannah Arendt jedenfalls einig: H. Arendt an G. Jaspers, 10. Mai
1946, in: H. Arendt, K. Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, 77.
Breiten Raum, entlastet vom Emigrationsdruck, nimmt das Thema dann wieder in der ers-
ten Nachkriegsvorlesung »Die geistige Situation in Deutschland« ein, die wohl bereits in den
Rahmen des Buchprojekts über »Deutsche Selbstbesinnung« oder »Deutsches Selbstbewußt-
sein« gehört, vgl. aus dem publizierten Teil der Vorlesung: »Die Schuldfrage«, 67-74, und S. 114
den Appell: »nicht deutsch zu sein, wie man nun einmal ist, sondern deutsch zu werden, wie
man es noch nicht ist, aber sein soll, und wie man es hört aus dem Anruf unserer hohen Ah-
nen, nicht aus der Geschichte der nationalen Idole«. Der Wechsel nach Basel forciert (emo-
tionalisiert) die »Deutschlandfrage« zusätzlich, durchaus auch in der Ambivalenz des Politi-
schen: »Es ist doch ein tief einschneidender Schnitt. Längst überwunden geglaubte Schmerzen
werden wieder wach: als Deutsche sind wir entweder illusionären Denkgewohnheiten ausge-
liefert oder losgelöst vom politischen Boden, gleichsam nackt, faktisch preisgegeben und da-
mit aufgeschlossen für den Ursprung dessen, was wir als Deutsche eigentlich sein können. Die
Deutschlandfrage wird mir jetzt schon eindringlicher als bisher. Aus meiner jetzigen Lage, in-
nerhalb und politisch zugleich ausserhalb, mit wachsender Empfindlichkeit, hoffe ich noch