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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0035
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Grundsätze des Philosophierens

Dieser Mythos, in seiner Farblosigkeit fast schon unmythisch, rückt Gott in die äus-
serste Ferne, über alles Numinose und nur Dämonische hinaus. Aber er bringt den Fer-
nen wieder ganz nah, nicht zwar in den Realitäten der Welt, sondern in der eigenen
Freiheit des Menschen. Frei weiss der Mensch, dass er gar nicht durch sich selber auf
sich steht, sondern dass gerade in der entschiedensten Freiheit sein Selbstsein durch
Gott ist. Die Freiheit in der Welt ist die radikale Abhängigkeit von Gott.
Die Freiheit des Menschen ist in der absoluten Transzendenz gerettet. Der Verzicht
auf Bildnis und Gleichnis Gottes, auf jede Gestalt Gottes als Weltseins, bedeutet das
Hellwerden der Freiheit, aber auch die Schwere des Freiseins.
Formal ist diese Freiheit gegenüber allem Weltsein noch in der radikalen Negativi-
tät des Verstandes wirksam: der Mensch kann denkend von allem absehen, als ob es
nicht sei, kann in Gedanken das Äusserste versuchen, z.B. von jeder Realität denken,
sie könnte auch nicht sein, schliesslich von der Welt im Ganzen: es sei denkbar, dass
überhaupt nichts sei. Aber dieses Absehenkönnen ist rein negativ; solches Denken
kann nur das Nichts, nicht das Sein erreichen.
Erfüllt ist daher die Freiheit, wo sie im Negativen (gegenüber dem Weltsein) des
Seins selbst inne wird, des Seins, worin die Welt als Ganzes aufgehoben, eine ver-
schwindende Erscheinung ist.
Weil jede Anschauung als Bild im Zeigen gerade verbirgt, ist die entschiedenste
Gottnähe in der Bildlosigkeit. Diese wahre Forderung des alten Testaments ist jedoch
nicht einmal in diesem selber erfüllt worden: es blieb die Persönlichkeit Gottes als Bild,
sein Zorn und seine Liebe, sein Richtertum und seine Gnade. Die Forderung ist uner-
füllbar. Das Überpersönliche, das rein Wirkliche Gottes ist zwar in seiner Unfasslich-
keit bildlos zu ergreifen versucht vom spekulativen Seinsdenken des Parmenides und
Plato, vom indischen Atman-Brahman-Denken, vom chinesischen Tao - aber auch alle
diese Gedanken können in der Durchführung nicht erreichen, was sie wollen. Immer
stellt sich für menschliches Denk- und Anschauungsvermögen das Bild ein. Wenn aber
im philosophischen Gedanken Anschauung und Gegenstand fast verschwinden, so
bleibt vielleicht am Ende ein leisestes, schweigendes Bewusstsein gegenwärtig, das
doch in seiner Wirkung lebengründend und lebenführend werden kann.
Dann ist nach der Aufhellung aller Naturvergötterung, alles nur Dämonischen, al-
les Ästhetischen und Abergläubischen, alles spezifisch Numinosen im Medium der
Vernunft doch das tiefste Geheimnis unverloren.
2. Du sollst keinen anderen Gott haben.12 Dieses erste der zehn Gebote bedeutete
zunächst die Verwerfung der fremden Götter. Es wurde vertieft zu dem einfachen und
zugleich unergründlichen Gedanken: es gibt nur einen Gott. Das Leben des Menschen,
der den einen, einzigen Gott glaubt, ist gegenüber dem Leben mit vielen Göttern auf
einen radikal neuen Boden gestellt. Die Konzentration auf das Eine gibt dem Ent-
schluss der Existenz erst seinen wirklichen Grund. Der unendliche Reichtum ist doch
 
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