Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0054
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Grundsätze des Philosophierens

51

Liebe zum Gesetz3 erwachsen. Die Gliederung aller Tage durch gebotene Handlungen
und die Führung des Lebens durch Regeln gibt einen festen Rückhalt, wenn auch nur
als Gehäuse, innerhalb dessen erst das Wesentliche geschieht. Es ist dann nicht die
Frage, ob mit oder ohne konkret bestimmte Gesetze zu leben sei, sondern nur mit wel-
chen. Da erst ergeben sich die grössten Unterschiede an Gehalt und Vernünftigkeit der
Gesetze.
g. Die Verkehrung dessen, woraus ich will, in ein Gewolltes. - Die Reflexion auf den
Gehalt des Unbedingten gerät fast unausweichlich in eine Irrung: Wenn ich wissend
inne werde, wie ich nur aus dem Grunde des Umgreifenden, aus den Ideen, der Liebe,
der Geschichtlichkeit das jeweils Bestimmte erfüllen und wollen kann, so lenke ich
fälschlich meine Absicht auf dieses Umgreifende geradezu: ich will die Idee, ich will
lieben, ich will geschichtlich sein. Statt die bestimmten endlichen Inhalte zu wollen
unter Führung des Umgreifenden, will ich dies Umgreifende, woraus diese Inhalte ih-
ren Sinn empfangen, unmittelbar bewirken. Die Folge ist ruinös: das, was ich in der
Tat nie bewirken kann, bewirke ich scheinbar in Verhaltungsweisen, in Gebärden, Mei-
nungen, in gezüchteten,b künstlich erwärmten Gefühlen, aber allesc als unecht. Die
Unechtheit offenbart sich in der Unverlässlichkeit, in der schnellen Vergesslichkeit,
in der Unreinheit der Seele, vor allem in dem Ausbleiben des eigentlichen Sichtreffens
mit anderer Existenz. Statt in wirkliche Kommunikation zu treten, vollzieht sich eine
Beschränkung auf den Austausch gegenseitiger Unechtheit in der Atmosphäre eines
gewaltsamen Glaubens daran, also faktisch eine Isolierung der Menschen im Schein
ihrer Verbundenheit, daher mit der Möglichkeit des Abbruchs der Scheingemeinschaft
durch entschleiernde Enttäuschungen.
Das Verhängnis der ethischen Erörterungen und der Gründung des Lebens auf
blosse Ethik ist diese Grundverkehrung des Unbedingten. Die führende Macht ist dann
nicht mehr die aus der Transzendenz geschenkte, liebende Gegenwärtigkeit des Selbst-
seins, sondern das moralische Wissen um das Richtige. Von dem Wesenwillen der Seele
bleibt nur der gute Wille der Einsicht, der doch in seiner Trefflichkeit jederzeit stolpert,
sobald er über das ihm Mögliche hinaus in jene Verkehrung treibt. Dann wird, was nur
als geschenkt wahrhaftig ist, als gewollt unwahrhaftig. Aus der Hingabe an die Sache
wird eine egozentrische Betätigung. Aus der Teilnahme am inneren Sein des Anderen
wird eine Befriedigung der Machtgefühle in ständiger0 moralischer Beurteilung mit
betonter Anerkennung und Verwerfung des Tuns der Anderen und mit der Interpreta-
tion alles Geschehens durch Schuld und Strafe. Aus selbstgewisser Erfüllung des eige-

a Liebe zum Gesetz im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu »Liebe zum Gesetz«
b gezüchteten, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 gestr.
c nach alles im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. auf diesem Wege notwendig
d ständiger im Vorlesungs-Ms. 1945/46gestr.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften