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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0065
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62

Grundsätze des Philosophierens

aa. Offenbarung an den Einzelnen: Unmittelbar, im Ganzen des je eigenen Schick-
sals, kommt der Mensch nach dem Erwägen von Möglichkeiten, nach Fragen und un-
abschliessbaren Reflexionen zur Gewissheit seines Entschlusses, die in allen wesentli-
chen Augenblicken unerrechenbar und unbegreifbar ist. Diese Gewissheit ist von dem
Ernst unbedingten Einsatzes getragen. In ihr liegt, was als Willen Gottes deutbar, wenn
auch nie leibhaftig hörbar ist.
Es gibt Menschen, die, ohne anderen gegenüber für sich ein Hören von Gottes Wort
in Anspruch zu nehmen, in ihrem Leben, Denken, Handeln uns wie von Gott geführt
erscheinen. Sie werden uns zur Orientierung, ohne einen bestimmten Weg der Nach-
folge zu zeigen.
bb. Offenbarung als allgemeingiltige Autorität in der Welt: Es gibt Menschen - die
Propheten -, die mit dem Anspruch auf Autorität aussprechen, was sie von Gott erfah-
ren haben, und was sie selbst als Gottes Werkzeug für alle anderen Menschen sind. Und
es gibt Institutionen - die Kirchen -, die solche Aussagen der Propheten durch ihre Au-
torität überliefern und für sich selbst einen Charakter der Heiligkeit (z.B. die katholi-
sche Kirche als corpus Christi)71 in Anspruch nehmen.
cc. Offenbarung durch Überlieferung: Die Führung Gottes im Ganzen geschieht
durch die Objektivitäten der Überlieferung. Der Einzelne wird in seiner einmaligen
Verantwortung erweckt, beseelt, erfüllt durch Überlieferung. Sie wird der Anlass zur
Gewissheit im Nichtwissen, zum Entschluss in der Vieldeutigkeit des Möglichen. Gott
spricht in der Gemeinschaft der Menschen, in der ich solidarisch durch Kommunika-
tion lebe, und in der Gemeinschaft der auf Gott bezogenen Menschen durch die Jahr-
tausende.
Die mögliche Sprache Gottes ist jedoch nicht an einzelnen Stellen der Überliefe-
rung ausschliessend zu hören, sondern in der Gesamtheit der geistigen Geschehnisse,
die den Menschen befreiten, indem sie ihn zum Bewusstsein seiner Endlichkeit und
Unvollendbarkeit und seiner Erlösungsmöglichkeiten brachten. Diese Ereignisse lie-
gen in der Achse der Weltgeschichte, der Zeit von 800-200 vor Christus in China, In-
dien und dem Abendland.72 Wir Abendländer, die aus der biblischen Religion leben,
sollen doch über das Abendland hinaus Gott hören, wo immer er zu uns spricht durch
Menschen, die in letztem Ernst die Transzendenz erfuhren. Wir brauchen uns nicht
gefangen zu geben in eine partikulare Herkunft religiöser Überlieferung, die wohl einst
einen totalen Charakter hatte, ihn heute aber nicht mehr besitzt. Unsere Gründung
in der Überlieferung biblischer Religion wird nicht preisgegeben, wenn sie als der be-
sondere für uns geschichtliche Grund des eigenen Lebens im weiteren Raume des Wah-
ren erfahren wird.
Die Überlieferung hat den Charakter der Objektivität. In deren Grunde verborgen
ist die Offenbarung als die Erscheinung der Transzendenz, durch die der Mensch ge-
 
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