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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0087
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Grundsätze des Philosophierens

1. Es macht die Abstraktionen allgemein deutlich, welche durch den philosophi-
schen Glauben erst jeweils geschichtlich erfüllt werden. Der Gedanke bringt den Glau-
ben nicht hervor, sondern erhellt ihn. Diesen Weg gingen wir im I. Teil.
2. Es entwickelt Gedankenbewegungen, in denen das Sein im Ganzen gegenwärtig
wird. Dies sind die eigentlich speculativen Gedanken, die, ohne etwas zu erkennen,
durch ihren Vollzug offenbar machen, was ist (so das Seinsdenken des Parmenides und
Heraklit, Anselms Gottesbeweis). Solche Gedanken sind einer der Wege der Metaphysik.
3. Es nimmt die Glaubensgrundsätze in ein systematisches Gedankenganzes auf.
Denken ist an sich systematisch, es sucht das Ganze in einer alles übergreifenden Struk-
tur zu fassen, zunächst Weltbild und Weltanschauung, dann Ontologie als Lehre vom
Sein im Ganzen zu entwerfen. Immer wieder tritt daher Philosophie als System auf,
wenn auch vergeblich; denn jedes System als solches zerfällt alsbald[,] weil das Sein
nicht System ist, sondern nur im Sein Systeme vom Denken gefunden werden, jedes
das Ganze des Seins ergreifende System scheitert. Aber jederzeit bleibt der philosophi-
sche Gedanke wenigstens systematisch, d.h. er entwirft versuchende Konstruktionen
auch dann, wenn er sich von der Wahrheitswidrigkeit jedes Systems, von der Unmög-
lichkeit des Seinsganzen als eines Systems überzeugt hat. Es entstehen dann aus dem
Wissen von der Unmöglichkeit, das Sein im System zu fassen, schwebende Systemati-
ken, oder eine Systematik des Unsystematischen. Dieser Weg wird im Hervorbringen
philosophischer Gedankenwerke beschritten.
4. Es findet Gedankengänge, welche alles Erkennbare und die Welt im Ganzen an
den Grenzen transcendieren, sodass sie der Erscheinungshaftigkeit des Daseins und
des Umgreifenden des Seins gewiss werden. Es sind zwingende Gedankengänge - nicht
allerdings zwingend wie empirische und rationale Einsichten in endliche Gegen-
stände, die wissenschaftlich bewiesen und als bewiesen von jedem Denkenden, der sie
versteht, anerkannt werden, sondern sie sind zwingend für den sie Vollziehenden, der,
in ihnen über alles Endliche transcendierend, mit dem Endlichen des Unendlichen
inne wird. Indem er an der Grenze sich bewegt, wird die Grenze als Grenze ihm zwin-
gend fühlbar; methodisch überschreitet er mit Kategorien diese selben Kategorien; im
Nichtwissen findet er eine neue Weise gegenstandslosen Wissens. Dieses Philosophie-
ren kann Gedankengänge vollziehen, die zwar keine Glaubensgehalte beweisen, ih-
nen aber den Raum frei machen. Glaubensgehalte haben einen anderen Ursprung als
das beweisende Denken. Aber transcendierendes Denken findet Einsichten, die zu Vor-
aussetzungen für die Denkbarkeit von Glaubensgehalten werden. Diese Einsichten,
wenn sie auch ihrerseits wiederum nicht durch gegenständliches Denken bewiesen
werden, können sich doch im transcendierenden Denken ausweisen.
Mit den Gedankengängen dieser vierten Richtung haben wir es jetzt zu tun. Die
Grundfragen, die so auf die Voraussetzungen allen Glaubens führen, lassen sich in fol-
gender Anordnung erörtern:83
 
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