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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0095
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Grundsätze des Philosophierens

Alles, was mir Gegenstand wird, tritt aus einem dunklen Grunde des Seins an mich
heran. Jeder Gegenstand ist ein bestimmtes Sein, steht mir gegenüber in Subjekt-Ob-
jekt-Spaltung, ist niemals Alles, ist niemals das Ganze. Kein gegenständlich gewusstes
Sein ist das Sein.
Auch die Gesamtheit der von uns wissbaren Gegenstände ist nicht das Ganze des
Seins. Was immer anschaubar und denkbar wird als Gegenstand, ist wohl bezogen auf
anderes und schliesslich auf die Gesamtheit der Gegenstände. Das alle diese besonde-
ren Gegenstände Einschliessende, selber gegenständlich werdende Sein nennen wir
den Horizont des Seienden. Aber auch dieser uns vor Augen stehende Horizont ist
nicht das Umgreifende das Seins selbst. Wie wir in der räumlichen Welt auf den Hori-
zont zugehen, ihn jedoch nie erreichen, vielmehr der Horizont mitgeht und sich im-
mer neu als das jeweils Einschliessende wiederherstellt, so gehen wir im Gegenständ-
lichen auf jeweilige Ganzheiten zu, die sich jedoch niemals als das ganze und
eigentliche Sein erweisen. Sie müssen wieder durchbrochen werden in neue Weiten.
Nur wenn sich die Horizonte zusammenfänden zu einem geschlossenen Ganzen, wür-
den wir in der Bewegung durch alle Horizonte hindurch, da sie dann eine endliche
Vielheit wären, das eine geschlossene Sein gewinnen. Aber im Fortgang des Erkennens
zeigt sich nur immer entschiedener dieser Grundcharakter des Erscheinens: das Sein
ist für uns ungeschlossen. Es zieht uns ins Unbegrenzte.
Wenn mit der in Gegenstand und Horizont entgegenkommenden Erscheinung die
Erfahrung das Ungeschlossenen uns bewusst wird, so fragen wir nach dem eigentli-
chen Sein, das uns in der Bewegung unseres gegenständlichen Erkennens doch als es
selbst zurückweicht. Dieses Sein, das selber weder Gegenstand noch anschaulicher Ho-
rizont ist, sondern woraus alle Gegenstände und Horizonte uns entgegentreten, nen-
nen wir das Umgreifende. Das Umgreifende ist also das, was sich immer nur ankün-
digt, was nicht selbst, sondern worin alles Andere uns vorkommt.
Wir vollziehen diesen philosophischen Grundgedanken, indem wir über jedes be-
stimmte Sein hinausdenken hin zum Umgreifenden, in dem wir sind, und das wir sel-
ber sind. Es ist ein uns gleichsam umwendender, weil aus jedem bestimmten, uns fes-
selnden Sein wieder lösender Gedanke.
c. Erhellen, nicht Erkennen des Umgreifenden. - Statt das eigentliche Sein zu er-
kennen, vermögen wir nur das Umgreifende zu erhellen. Da die Erhellung in der Folge
von Gedanken geschieht, so kann man sie auch Erkennen, ein philosophisches Erken-
nen nennen. Aber dieses unterscheidet sich in Sinn und Methode grundsätzlich vom
gegenständlichen oder wissenschaftlichen Erkennen.
Die Frage, was eigentlich ist, findet also ihre Antwort durch die Erhellung der Wei-
sen des Umgreifenden. Sofern aber diese, wie sie sich gegenseitig fordern, in Einem ge-
gründet sind, ist am Ende der das Umgreifende gliedernden Erhellung die Antwort:
das eigentliche Sein ist die Transcendenz (oder Gott), ein Satz, dessen wirkliches Ver-
 
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