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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0103
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IOO

Grundsätze des Philosophierens

Allein die Vernunft in ihrer Weite hält sich offen für die Zweideutigkeit, ohne skep-
tisch dem Zweideutigen zu verfallen. Im Zweideutigen liegt etwas, das zum Beliebigen
verführt: Wahrheit ist Schein; es gibt nur Schein; nichts ist wahr, alles möglich; nichts
ist verboten, alles erlaubt; es gibt nur die Kraft des Lebens und diese Kraft ist das Le-
benkönnen im Schein. Solche Verführung bringt statt zum unaufhaltsamen Auf-
schwung in der Offenheit für das Zweideutige vielmehr zum Verfall in der Verwirrung.
Es ist die ständig wachsende Anstrengung des reif werdenden Menschen, mit der Ent-
schiedenheit seines Entschlusses, der Klarheit seiner Wahl, der Eindeutigkeit der be-
stimmten entweder-oder doch an der Grenze des Ineinander sich zu vergewissern, wel-
ches verhindert, das Wahre und Gute schlechthin uns zum Besitz werden zu lassen.
Das eigentlich und ganz Wahre und Gute wäre gegensatzlos. Wo Gegensatz ist,
steht das andere ihm nicht nur gegenüber, sondern ist auch in ihm, ist Stachel der Be-
wegung, Moment der Unreinheit, Mangel der Vollendung. -
Wahrheit sahen wir in so vielfacher Gestalt [,] als Weisen des Umgreifenden sind. Wir
vergegenwärtigten sie in der Bewegung der Vernunft. Sie zeigte sich in ihrer Einheit
mit dem Guten, in ihrer Bindung an das Falsche. Nunmehr erörtern wir noch im be-
sonderen zweia Gegensätzlichkeiten des Wahrheitssinns: den Gegensatz der geschicht-
lichen Unbedingtheit im Glauben und der allgemeingiltigen Relativität im Wissen,b
den Gegensatz der Vielfachheit des Wahren und der Einen Wahrheit.91
e. Geschichtliche Unbedingtheit und allgemeingiltige Relativität. - Dieser Gegen-
satz ist innerhalb des Wahrheitssinns der praktisch radikalste, der wesentlichste und
verhängni svollste.
Wo ich unbedingt handle, weil ich unbedingt glaube, da weiss ich nicht entspre-
chend. Da gibt es keinen zureichenden Grund und keinen Zweck, von dem her das
Handeln als zweckentsprechend, d.h. verständig begreifbar ist. Das Unbedingte ist
nicht der Inhalt eines allgemeinen Satzes, sondern ist geschichtlich in der undurch-
dringlichen, grenzenlos sich hell werdenden Lebendigkeit gegenwärtigen Tuns. Es ist
in seiner Tiefe ungewusst und unwissbar, soviel auch aus ihm heraus gewusst, gesehen,
gesagt werden kann. Es ist unvertretbar, daher je einmalig, und ist doch vielleicht nicht
nur Orientierung, sondern Vorbild zum Wiedererkennen dessen, was zwar in ge-
schichtlicher Erscheinung verschieden ist, aber in der Ewigkeit eines wirdc. Das Unbe-
dingte ist Vollziehen des Zeitlichen in der Ewigkeit oder Erscheinen der Ewigkeit in der
Zeit; dadurch begründet es zwar nicht ein Wissen vom Ewigen, aber um das Ewige.

a zwei im Ms. hs. Vdg. für drei
b nach Wissen, im Ms. gestr. den Gegensatz der Versinnlichung der Transcendenz und der reinen Spi-
ritualität,
c eines wird in der Abschrift Gertrud Jaspers hs. Vdg. für coincidiert
 
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