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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0108
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Grundsätze des Philosophierens

105

b. Gegenständlich erkennendes und speculativ transcendierendes Denken: - Ge-
genständliches Erkennen ist bestimmt und partikular, hat vor sich, was es meint, geht
auf endliche Dinge und Zwecke, ist unterscheidend, alternativ, berechnend. Es ist sinn-
voll für Erkenntnis des in der Welt Vorkommenden.
Transcendierendes Denken ist im Gegenständlichen und Bestimmten unbestimmt
und total, hat seinen Sinn im Vollzug der Bewegung, nicht vor sich als Gegenstand, geht
auf Unendliches und Zweckfreies, ist dialektisch, synthetisch, offenbarend. Es ist sinn-
voll für Erhellung des Seinsbewusstseins im Ganzen, des Ursprungs, des Unbedingten.
Man kann sagen, eine philosophische Erörterung erreiche ihr Ziel nur dann, wenn
die Sache gegenstandslos werde, in dem zweideutigen Sinn: dass für den Realisten und
Positivisten nichts übrig bleibt, er keinen Gegenstand mehr sieht, daher das Ganze als
erledigt und überflüssig betrachten muss; - dass aber für den Philosophen damit ge-
rade das Licht aufgeht, er im gegenständlich Verschwindenden das Eigentliche gegen-
wärtig gewinnt, das Sein nicht ergreift, aber von ihm erfüllt wird.
Diese philosophisch-speculative Denkungsart, welche keinen Gegenstand hat, son-
dern im Gegenständlichen ein anderes vergegenwärtigt, ist im Rationalen zugleich ra-
tional unfasslich.
Das damit Gesagte ist wie nichts oder ist scheinbar - und irreführend - eine be-
stimmte Gegenständlichkeit, die als solche widerlegbar und nichtig ist.
Daher ist mit dem sinnvollen Vollzug dieser Denkungsart verknüpft ein Ruck ge-
genüber der gewohnten rein gegenständlichen Denkungsart. Im philosophischen
Denken erwerbe ich zwar eine Gewissheit, aber ich weiss nichts. Ich werde eines Seins
inne, aber habe es nicht vor mir.
Weil die mit solchem Denken ausgesprochenen Sätze in ihrem gegenständlichen
Sinn inadäquat und täuschend sind, ist dieses Denken wie ein Geheimnis. Weil das
Missverstehen, das falsche Anwenden, das gegenständlich wissende Fixieren eine für
den Philosophierenden quälende Verkehrung ist, ist eine Neigung begreiflich, solches
Denken auch in der Tat geheim zu halten und nur nach bildender Vorbereitung dem,
der verstehen kann, mitzuteilen. Neben magischen, sociologischen und anderen Mo-
tiven, welche historisch bedingt und vergänglich sind, spielt dieses wesentliche Mo-
tiv vielleicht eine Rolle bei dem in den Anfängen des Philosophierens überall verbrei-
teten Geheimhalten. Aber solches Geheimhalten ist nicht nur nicht durchführbar,
sondern in einer Welt, in der verwandte Geister sich nur durch das Medium der Öf-
fentlichkeit in der Menge der Menschen finden und wahrnehmen können, auch
zweckwidrig für den Communicationswillen. So wird die Philosophie zu einem »of-
fenbaren Geheimnis«. Das heisst, die Sätze sind in Druckwerken zwar allgemein zu-
gänglich, ihr echtes Verständnis aber wenigen, aus sich Entgegenkommenden Vorbe-
halten; ihre Verkehrung und ihr Missbrauch ist das normale, ihren echten Kern in den
breiten Fluten der Öffentlichkeit umströmende Philosophieren.
 
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