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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0109
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io6

Grundsätze des Philosophierens

c. Die drei Weisen des Transcendierens: - Transcendieren geht erstens (als philoso-
phische Weltorientierung) auf die Grenzen des Weltwissens zum Bewusstsein der Er-
scheinungshaftigkeit allen Daseins, zweitens (als Existenzerhellung) auf mich selbst in
meinem möglichen Ursprung, drittens (als Metaphysik) auf das Sein der Transcendenz.94
Ein Beispiel aus der dritten Weise, dem metaphysischen Denken, ist das formale
Transcendieren.95 Dieses vollzieht im Gedachten notwendige Widersprüche, im Zu-
sammenbruch des Gedankens erfasst es die Tiefe das Grundes. Oder umgekehrt, es be-
nutzt Widersprüche, um sich voranzutreiben zum Innewerden eigentlichen Seins. Je-
desmal ist der formale Gedanke als blosser Gedanke noch leer; erst in Erfüllung durch
existentiellen Gehalt wird er ein beschwingender, unendlicher Gedanke. Dessen Ein-
fachheit schliesst nicht seine ausserordentliche tragende Kraft aus; so z.B. der Gedanke
Anselms (der später sogenannte ontologische Gottesbeweis).
d. Die Verkehrung transcendierenden Denkens zu gegenständlichem Erkennen. -
Das philosophische Denken hat als philosophisches den Charakter des Transcendie-
rens. Zwar ist es, wie alles Denken, jeden Augenblick an Gegenständliches gebunden[,]
und in den Vorbereitungen eines wesentlichen philosophischen Gedankens kann die
Herbeischaffung des Gegenständlichen noch allein die Aufmerksamkeit fesseln. Aber
im Philosophieren als solchem wird der Sinn verloren, wenn das Gegenständliche sel-
ber die Sache wird, auf die es ankommt. Stets ist in uns die Neigung, diese Fixierung
an den Gegenstand, die Identificierung dessen, was wir philosophisch meinen, mit
dem Gegenständlichen zu vollziehen. Jedesmal, wenn wir in dieser Neigung nachge-
ben, haben wir den philosophischen Gehalt preisgegeben. Statt des philosophischen
Sinns in der Gedankenbewegung haben wir ein Scheinwissen in der Hantierung mit
Begriffen, die im ursprünglichen Denken als Träger des philosophischen Sinns einmal
transparent, oder Haltpunkte einer über sie hinausgreifenden Bewegung waren. Es ent-
steht eine scheinbare Wissenschaft in gegenständlicher Lehre. Mit dem Verlust des
Philosophierens ist man in den Besitz einer Philosophie geraten.
Diese zur Natur des philosophischen Denkens gehörende Verkehrung lässt sich auf
mannigfache Weise charakterisieren, z.B.:
Das Umgreifende ist der Raum des Innewerdens, sofern ich selbst es bin; es ist die
Grenze der Berührung, sofern es das Sein selber ist. Im Erhellen dieser Räume und die-
ser Grenzen erwachsen eigentümliche Begriffe. Der Grundfehler wird gemacht, wenn
diese mit dem Umgreifenden zum vermeintlichen Gegenstand einer Forschung ver-
wandelt sind. Dann ist das Denken nicht mehr geführt von dem Umgreifenden, das
im Denken sich selber licht wird; sondern zwischen den Begriffen, die im Innewerden
des Raums und in der Berührung einmal erwachsen sind, werden Beziehungen herge-
stellt, wie zwischen Dingen der Erforschbarkeit. Die Begriffe sind dann losgelöst von
dem Boden, aus dem sie ihren Sinn hatten, und haben nun einen, allerdings fragwür-
digen, rein gegenständlichen Sinn einer Sache, die man vermeintlich untersucht.
 
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